Sonntag, 21. Dezember 2014

High-Res Audio Reboot

Die letzte AES-Convention fand im Oktober in Los Angeles statt, was ein bißchen zu weit weg für mich war. Ich reise nicht so gern in die USA wenn ich nicht unbedingt muß. Teuer, anstrengend, und ehrlich gesagt auch angesichts der "Immigration"-Prozedur nicht unbedingt angenehm. Ein großes Thema auf besagter Veranstaltung was offenbar "High Resolution Audio (HRA)", mit diversen Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen, für die inzwischen auch die Texte auf der AES-Webseite zugänglich sind. Für die meisten leider nur gegen Geld.

Es wäre aber vielleicht interessant gewesen, hinzugehen, wie sich jetzt herausstellt. Gerade weil ich dieses Hi-Rez Thema für eine riesen Portion Bullshit halte, wie ich ja schon verschiedentlich deutlich gemacht habe. Hier schreibt einer seine Eindrücke davon. Nach allem was man so mitkriegt, rüsten sich größere Teile der Audiobranche, die Hi-Rez-Formate in den Massenmarkt zu drücken. Die Marketing-Bullshit-Welle zu dem Thema rollt ja erkennbar schon eine Weile, und wird wohl weiter an Schwung aufnehmen.

HRA wird interessanterweise als mögliche Lösung für den Lautheitskrieg angepriesen, z.B. entnehme ich aus obigem Link folgende Passage:
Ulyate commented that HRA "lets us hit the reset button on the loudness wars," referring to the fact that most recorded popular music on CDs is heavily compressed to encompass a very narrow dynamic range, which makes it sound loud all the time. (I'm not talking about data compression like MP3, but dynamic compression.) By contrast, HRA recordings are often untouched by dynamic compression.
Ryan Ulyate ist ein Produzent und Toningenieur, und ich frage mich ob er wirklich glaubt was er da verkündet. Wieso sollte es bei den HRA-Formaten anders laufen als bei der CD selbst?

Ulyate ist alt genug um sich zu erinnern wie das zu den Anfangszeiten der CD war. Anfang der 80er war die CD das audiophile Medium, das teuer war und daher nur bei den Audiophilen mit Qualitätsanspruch zu finden war. Die Wandlertechnik war zwar noch nicht auf dem heutigen Stand, aber das hat nicht verhindert, daß die Aufnahmen auf CD als weithin qualitativ überlegen angesehen wurden. Wer damalige Pressungen hat und sie mit heutigen CDs vergleicht, wird mir in vielen Fällen recht geben.

Die CD von heute ist nicht deswegen "heavily compressed", weil das bei der CD aus irgendeinem Grund technisch nötig wäre. Sie ist deswegen so heftig komprimiert, weil das die Produzenten, und durchaus auch die Musiker, so wollen. Also genau solche Leute wie Ulyate selbst einer ist.

Die Situation bei HRA wird nur dann anders aussehen, wenn diese Leute es da anders wollen als bei der CD. Wenn Ulyate will, daß die HRA weniger komprimiert werden als die CD, dann kann er das natürlich machen. Er könnte es aber genauso gut auch bei der CD selber, wenn er wollte. Die Entscheidung hat mit dem Format nichts zu tun. Jedenfalls nicht aus technischer Sicht. Was meint er also mit dem "reset button"?

Ich interpretiere das so: Er ist sich im Klaren, daß die Marktsituation von HRA im Moment so ähnlich aussieht wie zu Beginn der CD. HRA okkupiert einen Nischenmarkt für Anspruchsvolle, bei dem man sich gerade anschickt, die Nische zum Mainstream zu machen. Insofern ist es im Moment noch nicht nötig, bei HRA heftig zu komprimieren, so wie das auch bei der CD anfangs war. Das Spielchen mit dem Lautheitskrieg geht also einfach in eine neue Runde.

Um die Reset-Knopf-Analogie etwas weiter zu bemühen: Das Programm "Audio Distribution" ist auf einen Bug gelaufen und gecrasht. Man drückt auf den Reset-Knopf und bootet neu. Das Problem: HRA behebt keines der Probleme, die zum Lautheitskrieg geführt haben. HRA doesn't fix the bug. Was ist also zu erwarten wenn man neu bootet? Richtig: Man läuft auf den gleichen Bug, und derselbe Crash passiert erneut. Man kann sich allenfalls streiten wie lange es bis dahin dauern wird.

HRA macht gegenüber der CD zwei Dinge: Die Wortlänge wird von 16 of 24 Bit vergrößert, und die Abtastfrequenz wird von 44,1kHz auf 88,2kHz oder mehr erhöht. Die erste Maßnahme senkt das Ruherauschen des Formates, und die zweite Maßnahme vergrößert den Frequenzbereich des Audiosignals, das wiedergegeben werden kann. Keine der Maßnahmen hat irgend etwas mit dem Lautheitskrieg zu tun. Der wird nämlich an der Aussteuerungsgrenze ausgefochten. Und die bleibt bei allen HRA-Formaten die gleiche wie schon bei der CD.

Das Ruherauschen ist schon jetzt bei der CD kein Problem. Wer eine heutige CD abspielt, der kann das kaum lauter tun als sagen wir 110 bis 120 dB(SPL) für 0dBFS. Da fliegen einem schon tendenziell die Ohren weg, und der Nachbar ruft die Polizei. Von den womöglich endgültigen Auswirkungen auf das Gehör ganz zu schweigen. Das Ruherauschen der CD läge dann um die 20 dB(SPL) herum, auf ein paar dB soll's nicht ankommen, zumal man an diesem Wert mittels verschiedener Sorten von Dither noch herumoptimieren kann. Das ist leiser als der Hörraum der allermeisten Leute. Da hört man das Grundrauschen bloß, wenn man nahe an den Lautsprecher geht. Wozu also noch tiefere Rauschwerte? Wer hat etwas davon?

Bei den Frequenzen ist es genauso: Daß man die Ultraschallfrequenzen über 20 kHz irgendwie hört wird zwar immer wieder behauptet, aber nicht wirklich nachgewiesen. Im Gegenteil, Studien, die es nachgewiesen haben wollen, erweisen sich immer wieder als fehlerhaft. Und Monty argumentiert einigermaßen plausibel, daß die höheren Frequenzen sich unter dem Strich eher negativ als positiv auswirken.

Eine weithin beachtete Studie dazu stammt aus dem Jahr 2007, als Brad Meyer und David Moran in Boston eine Versuchsreihe durchführten, bei der sie per ABX-Hörtest einige Beispiele hochauflösender Quellmedien gegen die auf CD-Format konvertierte Version des gleichen Materials antreten ließen. Ein statistisch signifikanter Unterschied war nicht festzustellen. Das Ergebnis wurde im September 2007 im AES Journal vorgestellt.

Daß das seither ein Stachel im Fleisch der HRA-Befürworter war, ist klar. Es hat daher natürlich prompt zahlreiche Versuche gegeben, diese Studie zu diskreditieren. Auf besagter AES Convention im Oktober diesen Jahres gab es dann einen Vortrag (P14-3) dreier Mitarbeiter von Meridian Audio in England, der über eine neue Versuchsreihe berichtet, die im Widerspruch zu der von Meyer und Moran stehen soll. Das hat noch vor dem eigentlichen Vortrag eine gewisse Aufregung in der audiophilen Szene verursacht, und in der Folge sind diverse Artikel in Foren, Blogs etc. entstanden, die davon reden, Meyer und Moran seien endlich nach allen Regeln der Kunst widerlegt ("debunked") worden. Gelegentlich beschleicht einen dabei der Verdacht, daß da ein paar Leute alte Rechnungen begleichen, siehe z.B. diesen Gesellen hier.

Leider ist der Artikel zum Vortrag für Außenstehende bisher nicht umsonst zu kriegen, was eine Beschäftigung damit etwas schwierig macht. Wer ihn hat (wie ich z.B.) darf ihn nicht legal weitergeben oder veröffentlichen. Das ist insbesondere deswegen schade, weil der Artikel auch noch von der AES mit einem "paper award" ausgezeichnet wurde. Angesichts des Zirkusses, der darum veranstaltet wird, werde ich aber trotzdem versuchen, auszuloten was da dran ist, und kann nur darauf hinweisen, daß ihr den Artikel auf der AES-Seite käuflich erwerben könnt, wenn Ihr es aus erster Hand lesen wollt.

Bevor ich über den neuesten Artikel schreibe, ist es aber angebracht wenn ich den Kontext ein bißchen beleuchte. Der Artikel aus dem Hause Meridian nimmt ausdrücklich Bezug auf den früheren Artikel von Meyer und Moran, aber das ist noch nicht der Anfang. Meyer und Moran wurden selbst zu ihrer Untersuchung motiviert durch einen noch früheren Artikel von Robert Stuart aus dem Jahr 2004. Zu diesem Artikel schrieben Meyer, Moran und Allison einen Kommentar im AES-Journal, und ein weiterer kam von Hadaway. Diese und die Antwort von Stuart gibt's gegen Geld von der AES.

Die Sache hat also eine mindestens 10-jährige Geschichte, und wenn man den Artikel von Meyer und Moran als Reaktion auf den Artikel von Stuart ansieht, dann kann man auch den neuesten von Stuart und Kollegen als Retourkutsche auf Meyer und Moran lesen. Das "Debunking" ist also gegenseitig, und man darf gespannt sein ob das in dieser Sache schon der letzte Streich war. Es sitzen jedenfalls jede Menge Leute am Ring und kommentieren die Auseinandersetzung.

Nun könnte man bereits zu Stuart's altem Artikel aus 2004 einiges sagen, aber dann würde ich hier nicht mehr fertig. Ihr könnt Euch das selber ansehen und Eure Gedanken dazu machen. Meyer und Moran haben in ihrem Kommentar darauf den Verdacht geäußert, daß es bei Stuart um "Commercialism" gehe, was mit dem Ideal des AES-Journals nicht recht vereinbar sei, in dem der Artikel von Stuart erschien. Sie kritisierten in diesem Zusammenhang, daß Stuart seine Schlüsse aus "Anekdoten" ziehe, die möglicherweise durch Vorurteile auf Seiten der Hörer geprägt und verfälscht seien. Hadaway hat in seinem Kommentar im Grunde das Verfahren vorgeschlagen, das danach von der Boston Audio Society in die Tat umgesetzt wurde, woraus schließlich der Artikel von Meyer und Moran in 2007 resultierte. Dieses Verfahren war, wie man im Artikel nachlesen kann, ein ABX-Test von hochauflösenden Quellen gegen ihre auf 44,1kHz/16-bit konvertierte Version.

In der Folge wurde das Meyer/Moran-Papier von verschiedenen Seiten angegriffen. Zum Einen fand man das ABX-Verfahren selbst ungeeignet. Diese Kritik reiht sich ein in eine generelle Blindtest-Skepsis, wo immer wieder behauptet wird, solche Tests seien derart unnatürlich, daß sie keine gültige Aussage erlauben. Der Testablauf verursache Stress, die Umschaltung erfolge zu schnell, und dergleichen mehr. Zum Anderen kritisierte man die Auswahl der Teststücke und bezweifelte die Eignung der verwendeten Anlage. Das sollte uns allen bekannt vorkommen.

Was ist jetzt vom neuesten Artikel zu halten, der angeblich Meyer/Moran widerlegt?

Es fällt zunächst auf, daß sich der Artikel auf etwas ganz anderes bezieht, wenigstens vom Titel her. Warum das eine Widerlegung von Meyer/Moran sein soll wird nicht unmittelbar klar. Es geht danach darum, die Hörbarkeit digitaler Filter in einer Wiedergabekette zu untersuchen. In der Tat ist das auch das, was die Meridian-Leute gemacht haben. Sie haben eine Blindtestreihe durchgeführt, in der untersucht wurde, inwiefern die Auswirkungen digitaler Tiefpassfilter, wie sie z.B. als Teil der D/A-Wandlung auftreten, gehörmäßig bemerkbar machen. Dabei muß man dazu sagen daß diese Filter rein im Digitalen arbeiten. Die Signalkette war durchgängig digital und arbeitete mit 192 kHz und 24-bit, bis in den digital angeschlossenen Lautsprecher hinein. In dieser Signalkette wurden wahlweise digitale Tiefpassfilter und Quantisierer auf 16-bit eingefügt, um deren Auswirkungen zu testen.

Dabei fällt auf, daß die Quantisierung einmal ohne Dither, und einmal mit RPDF-Dither ausgeführt war. Wie die Autoren selbst einräumen, wäre eigentlich TPDF-Dither erforderlich, um komplett neutrales Verhalten zu erzielen. Angeblich war diese Entscheidung getroffen worden, um Unvollkommenheiten realer Systeme besser abzubilden. Zudem wurden Tiefpassfilter benutzt, die steiler sind als bei üblichen D/A-Wandlern anzutreffen, vermutlich aus einem ähnlichen Grund.

Für den Hörtest wurde nicht das ABX-Verfahren benutzt, sondern ein "AX"-Verfahren. Beim ABX-Verfahren bekommt man zwei unterschiedliche Proben A und B, und muß sich entscheiden mit welcher der beiden die Probe X übereinstimmt. Beim AX-Verfahren bekommt man eine Probe A, und muß entscheiden ob sich X von A unterscheidet oder nicht. Dabei ist X manchmal identisch mit A, manchmal nicht. Bei jedem Durchgang kann man sich A und X beliebig oft und lange anhören, bis man sich entscheidet. Man bekommt dann gesagt ob die Entscheidung falsch oder richtig war, und es beginnt ggf. der nächste Durchlauf mit anderen A und X. Bevor die Sache im Ernst losgeht, gibt's aber eine Trainingsphase, bei der die Leute ohne Bewertung üben können.

Das Ergebnis war positiv, das heißt eine Hörbarkeit des Unterschiedes wurde festgestellt, allerdings mit nur knapp erreichter statistischer Signifikanz. Eine von 6 unterschiedlichen Einstellungen (Dither und Filter) hat die statistische Signifikanz verfehlt. Das heißt im Großen und Ganzen war der Unterschied mit knapper Not hörbar.

Der Artikel enthält etliche Details mehr, aber das soll uns mal für eine Bewertung reichen. Ist das nun eine Widerlegung dessen was Meyer/Moran vorgestellt haben?

Der Artikel der Meridian-Kollegen erweckt zwar diesen Eindruck ziemlich klar, aber sie gehen nicht so weit daß sie das ausdrücklich folgern. Es wäre auch ungerechtfertigt, denn sie haben damit gezeigt, daß Filter und Dither der Art wie sie sie in ihrem Versuch benutzt haben, hörbar sein können. Das sind auch die ersten beiden ihrer 5 "Conclusions", die sie am Ende ihres Artikels anbieten. Das heißt noch nicht, daß andere Filter ebenfalls hörbar sein müssen. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß sowohl Dither als auch Filtercharakteristik in ihrem Versuch etwas unrealistisch gewählt wurden, was durchaus die Wahrscheinlichkeit ihrer Hörbarkeit erhöht haben kann. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß die von Meyer/Moran benutzte Anlage mit ihrer Filtercharakteristik ebenso hörbare Artefakte hätte erzeugen müssen. Es können also die Ergebnisse beider Studien zugleich stimmen, einen behaupteten Widerspruch kann ich nicht erkennen.

Wenn ich selbst das Fazit ziehen würde, dann würde das in etwa so ausfallen:

Meyer/Moran zeigen, daß das CD-Format transparent sein kann, wenn man's richtig macht. Jackson/Capp/Stuart zeigen, daß man bei Dithering und Filterung aufpassen muß, weil man sonst ggf. hörbare Effekte bekommt.

Könnten die beiden Teams also beste Freunde sein? Ich fürchte nein. Das liegt weniger daran, was sie konkret rausgefunden haben, sondern daran, wie sie sich gegenseitig behandeln. Das wird besonders deutlich an der relativ langen "Introduction" im Artikel von Jackson/Capp/Stuart, und an seinem "Abstract". Was da zu lesen ist, steht nämlich in einem auffallenden Mißverhältnis zu der eigentlichen Studie.

Im Abstract werden zwei Schlüsse aus der Studie angeboten, die auch am Ende der "Introduction" auftauchen, und es sind nicht die gleichen wie am Ende des Artikels. Beide Schlüsse sind zudem nicht aus der Studie zu begründen.

Der erste Schluß behauptet, damit sei gezeigt, daß es hörbare Signale gebe, für die das CD-Format nicht transparent sei. Das wurde deshalb nicht gezeigt, weil man nicht von einem Satz an verwendeten Filtern und Dither auf die allgemeine Situation schließen kann. Andere Filtercharakteristiken könnten sehr wohl transparent sein. Die verwendeten Charakteristiken sind ohnehin ein bißchen auf der extremen Seite, verglichen mit dem was viele praktische Wandler verwenden. Wenn sie die Grenzen des Formates selbst hätten ausloten wollen, dann hätten sie die negativen Einflüsse der Filter minimieren sollen, und solche Arten von Dither einsetzen sollen, von denen bekannt ist daß sie transparent sind, wie z.B. TPDF-Dither. Ihr Schluß schießt also über's Ziel hinaus.

Der zweite Schluß behauptet, für solche Experimente müsse die verwendete Anlage eine hohe Klangtreue aufweisen. Das hört sich an wie eine Selbstverständlichkeit und ist es auch, es ist aber insofern falsch als es kein Schluß aus ihrer Untersuchung ist. Sie haben nicht untersucht, welchen Einfluß die Qualität der Anlage auf das Ergebnis hat. Die Anlage war für die ganze Untersuchung immer die gleiche. Es werden auch keine konkreten Richtwerte angegeben, anhand derer man beurteilen könnte ob die Qualität einer Anlage ausreicht oder nicht.

Die eigentlichen Ergebnisse der Untersuchung kommen interessanterweise im Abstract und der Introduction gar nicht vor, so daß man den Eindruck bekommt, Abstract und Introduction dienten einem anderen Zweck als der Rest des Artikels und die Untersuchung auf der er basiert. Das wird durch den Inhalt der Introduction noch bestätigt. Dort wird nämlich eine ziemlich ausführliche Liste von Argumenten und Literaturverweisen geboten, die allesamt Spekulationen darüber enthalten ob die CD als transparentes Medium ausreicht oder nicht. Sodann wird der Artikel von Meyer/Moran aufs Korn genommen, und wieder in Form von Spekulationen werden diverse mögliche Zweifel an deren Vorgehen vorgestellt, ohne daß der Versuch unternommen würde, sie zu substanziieren. Schließlich findet man eine Attacke auf die ABX-Testmethode, bei der angeblich die "cognitive load", also die Wahrnehmungslast, hoch sei, weil man drei Proben im Gedächtnis halten müsse, A, B und X, um einen Vergleich zu machen. Die Darstellung ist falsch, weil es diesen Zwang nicht gibt. Der Hörer entscheidet beim ABX-Test selbst, was er anhört und wann er umschaltet. Die Testmethode macht ihm diesbezüglich keine Vorschriften, und wenn er möchte kann er sich auf das Abhören von A und X beschränken, wodurch das Verfahren identisch wird mit dem was Jackson/Capp/Stuart selbst anwenden.

Ich kann auch nicht erkennen inwiefern sie ihre Vermutungen bzgl. der Wahrnehmungslast verifiziert haben. Ob ABX tatsächlich zu einer höheren Belastung in irgend einer Form führt oder nicht, ist erst einmal Spekulation. Es könnte ebenso gut anders herum sein: Es könnte sein daß das Vorhandensein einer dritten Probe beim Vergleich die Last verringert, weil man sich den Unterschied zwischen A und B, von dem man sicher weiß daß er vorhanden sein muß, zunächst einprägen kann, und sich erst dann der unbekannten Probe X widmet.

Es ist diese "Introduction", in der sich die Meridian-Gruppe ausführlich mit Meyer/Moran beschäftigen, und man muß leider sagen daß die Absicht, sie herunterzumachen, deutlich erkennbar ist. Die Art und Weise wie sie das tun gehört nicht in einen wissenschaftlichen Beitrag, denn es werden lediglich Zweifel gesät und mit falschen Argumenten hantiert, ohne daß das durch die dann präsentierten Versuchsergebnisse untermauert würde.

Es wird nicht verwundern, daß diejenigen, die nun im Internet auftreten und Meyer/Moran für widerlegt erklären, sich gerade auf den Abstract und die Introduction beziehen. Manche haben den Artikel nicht gelesen und zitieren nur aus dem Abstract. Selbst bei Hydrogenaudio ist ein Thread über den Artikel entgleist und wurde geschlossen. Pikant auch, daß eingefleischte Blindtest-Kritiker kein Problem mehr damit haben, daß man bei Meridian ebenfalls blind testet. Und schließlich fällt auch gerne unter den Tisch, daß es sich bei den angeblich offensichtlichen und für jeden gesunden Menschen hörbaren Vorteilen von HRA gegenüber der CD wohl kaum um das handeln kann, was bei Meridian gerade mal mit knapper Not hörbar war.

Was mir bei der Sache aber besonders aufstößt ist, daß der Artikel einen AES-Award bekommen hat. Der Artikel war zudem "peer-reviewed". Wenn man sich den Kopftext ansieht, der den Artikel ziert, dann steht da:
Winner of the AES 137th Convention Best Peer-Reviewed Paper Award
und
This Convention paper was selected based on a submitted abstract and 750-word precis that have been peer reviewed by at least two qualified anonymous reviewers. The complete manuscript was not peer reviewed. This convention paper has been reproduced from the author's advance manuscript without editing, corrections, or consideration by the Review Board. The AES takes no responsibility for the contents.
Wenn ich das nicht völlig falsch interpretiere, dann wurde da also gar nicht der Artikel selbst "peer-reviewed", sondern ein "precis", also eine gekürzte Vorversion, zusammen mit dem "abstract". Wenn das so ist, dann stehen die Türen für den Mißbrauch weit offen, denn wer stellt sicher, daß sich precis und Artikel nicht wesentlich unterscheiden? Welchen Sinn hat es, ein precis zu bewerten und auszuzeichnen, das dann niemand zu sehen bekommt?

In der Form wie er dann erschienen ist hätte meiner bescheidenen Meinung nach der Artikel keine Auszeichnung erhalten dürfen. Die darin vorgestellte Untersuchung mag seriös sein, aber die Form in der sie vorgestellt wird, besonders wie da mit Beiträgen anderer Leute umgegangen wird, ist keiner Auszeichnung würdig.

Als Rechtfertigung für High Resolution Audio ist die Sache jedenfalls in die Hose gegangen, würde ich sagen. Die Fronten werden dadurch sicher eher noch verfestigt.

Donnerstag, 13. November 2014

Patentierter Müll

Patente werden in der Politik gerne als Indikator für die Innovationskraft einer Firma oder eines ganzen Landes herangezogen. Die Anzahl eingereichter Patente pro Jahr ist so etwas wie ein Index, ähnlich wie dem "Geschäftsklima-Index" oder dem "Konsumklima-Index". Bloß spiegelt sich darin nicht die Qualität der Patente. Und die scheint mir immer weiter rückläufig zu sein.

Nun gab es immer schon völlig unsinnige Patente, die entweder nicht funktionieren, oder die nichts wesentlich Neues beschreiben, oder die kein reales Problem lösen. Man kann nicht wirklich erwarten, daß die Patentanwälte oder Patentämter all diesen Unsinn von vorn herein eliminieren. Angesichts immer breiter werdenden Wissens wäre das auch zunehmend unmöglich. In der Praxis hofft man darauf, daß auch erteilte Patente im Konfliktfall angefochten werden können, ggf. vor Gericht. Bei Bedarf kann man daher immer noch einen Entscheid herbeiführen, und wenn keine Klagen geführt werden, ist das Patent wohl auch nicht so wichtig. Unsinnige Patente werden somit als unvermeidlich hingenommen.

Leider besitzen Patente im breiten Volk immer noch einen unverdient guten Ruf. Viele Leute glauben offenbar, daß ein Patent ein Indiz für eine geprüfte Sinnhaftigkeit, oder für einen echten technischen Fortschritt darstellt. Das machen sich Scharlatane zu Nutze, indem sie den Eindruck erwecken als hätten sie ein Patent auf eine maßgebliche Erfindung.

Bei näherer Untersuchung bleibt davon oft wenig übrig, und gelegentlich erkennt man sogar daß es sich beim Patentanmelder um einen Spinner oder Hochstapler handeln muß. Damit schrumpft die Aussagekraft eines Patentes auf nahe Null.

Im Hifi-Forum ist letztens mit Gerd Sauermann ein "High-End-Verstärkerentwickler" aufgetaucht, der für seine Verstärker ein Patent geltend macht. Er startete seinen Auftritt in Beitrag #591 hier, und es ging in diesem Thread weiter. Sein Verhalten im Forum betätigt so ziemlich alle audiophilen Klischees, die ich hier im Blog schon mal durch den Kakau gezogen habe, daher braucht es dazu wohl nicht mehr vieler Worte. Seine Selbstdisqualifikation ist ziemlich vollständig. Das Patent hat aber immerhin den Vorteil, daß man seine als Neuigkeit angepriesene Schaltungstechnik genauer unter die Lupe nehmen kann, ohne daß man dafür Detailinformationen bräuchte, die solche Leute gerne unterschlagen.

Das dürfte nämlich der Patente größter Vorteil sein: Sie sind öffentlich. Damit kann man sich ansehen was da behauptet und gemacht wird. Das will ich in Sauermann's Fall mal tun, um zu sehen was denn der innovative Faktor seiner Entwicklung wohl sein wird.

Sauermann's Patent hat die Nummer DE102009057225, und wenn man sich dieses Patent ansieht (z.B. über DEPATISNET), dann sieht man darin die Prinzipschaltung, die angeblich neu und patentierfähig sein soll.

Nun wundert man sich, wie es eine Schaltung mit gerade mal 3 Transistoren und ein paar passiven Bauteilen geschafft hat, bis ins 21. Jahrhundert unpatentiert geblieben zu sein. Bei Schaltungen dieser geringen Komplexität hätte man normalerweise davon ausgehen können, daß sie im Grundprinzip schon vor der Geburt heutiger Entwickler bekannt waren. Gerade die Tatsache daß nur NPN-Transistoren verwendet werden, legt nahe, daß es eine Analogie mit Röhren gibt, die schon in der Zeit vor den Transistoren gefunden war.

Und tatsächlich hat die Schaltung eine auffallende Ähnlichkeit mit etwas, das unter den Röhrenfreaks als SRPP (Shunt Regulated Push-Pull) Verstärker bekannt ist, auch wenn dieser Name erst mit der Zeit aufkam, und auch etliche andere Namen dafür kursieren. Es gibt diverse Beschreibungen dieser Schaltung im Netz. Sie wurde 1940 von Newsome Henry Clough von Marconi in England unter der Nummer 526418 patentiert.

Ein SRPP braucht bloß zwei Röhren, denn man nutzt die Eigenschaft der Röhren, daß die Grid-Spannung im Normalbetrieb negativ gegenüber der Kathode ist. Das ist nicht so bei einem NPN-Transistor, daher braucht es da einen weiteren Transistor. Der wäre überflüssig, wenn man für den "Stromquellentransistor" in Sauermann's Design einen Depletion-MOSFET verwenden würde, wie er z.B. von IXYS erhältlich ist. Der wirkt nämlich in dieser Hinsicht wie eine Röhre. Sauermann's Änderung, die durch die Verwendung von NPN-Transistoren nötig ist, braucht zwar einen dritten Transistor, ändert aber am Funktionsprinzip der Schaltung nichts Entscheidendes. Interessanterweise fehlt aber in Sauermann's Patent, wie auch in seiner sonstigen Information, jeder Hinweis auf die SRPP-Schaltung, so daß man glauben könnte daß er darüber gar nichts weiß.

Das heißt daß Sauermann uns etwas als neu und seine eigene Erfindung zu verkaufen versucht, was in seinem Grundprinzip älter ist als er selbst (wobei ich einfach mal annehme, daß er keine 75 Jahre alt ist). Das muß keine dunkle Absicht sein, aber es spricht jedenfalls mal nicht gerade für seine Kompetenz und Seriosität.

Das wird nochmal unterstrichen durch Sauermann's idealisierte Darstellung der angeblichen Schaltungsvorteile, die keinerlei Anstalten macht, die sehr realen Abweichungen des Verhaltens der Schaltung von den idealen Bedingungen einzugestehen oder gar zu quantifizieren. So unterschlägt er z.B., daß der Strom durch den "Spannungsverstärkertransistor" keineswegs konstant ist. Der Strom durch den dritten Transistor (genauer: dessen Emitter) fließt nämlich ebenfalls durch den Spannungsverstärker, und dieser Strom ist signalabhängig. Der angebliche Konstantstrom ist daher in der Praxis nicht so konstant wie man offenbar glauben soll. Somit sind auch die Stromverstärkung und die Spannungsverstärkung nicht so "völlig unabhängig voneinander", wie er uns glauben machen will.

Nebenbei: In einem "konventionellen" Class-B Push-Pull Verstärker sind Spannungsverstärkung und Stromverstärkung ebenfalls voneinander getrennt. Die letzte Stufe in so einem Verstärker dient lediglich der Stromverstärkung. Die Trennung funktioniert anders als bei Sauermann, aber man könnte sie mit ziemlich ähnlichem Vokabular lobpreisen, wenn man wollte. Ganz ideal ist es da auch nicht, aber man kann immerhin die Vorspannung der Ausgangsstufe recht beliebig einstellen, so daß man damit wahlweise im Class-A oder -B arbeiten kann, während Sauermann's Design bloß mit Class-A funktioniert, und daher zwangsläufig recht Energie-ineffizient arbeitet.

Sauermann's Darstellung ist damit einesteils hochstaplerisch, weil er sich eine Erfindung ans Revers heftet, die nicht von ihm ist. Andererseits beruht sie auf Desinformation, weil sie die praktischen Einschränkungen gegenüber der idealisierten Darstellung ignoriert, obwohl sie de facto zu schlechteren Ergebnissen führen als man von "normalen" Verstärkern erwarten kann.

Sein Patent ist damit letztlich wertlos, aber vermutlich trotzdem lohnend, weil er es bei seiner Zielgruppe als Argument einsetzen kann. Nebenbei hat er der Politik einen Gefallen getan, denn dort zählt die Zahl der Patente, nicht der Gehalt.

P.S.: Ich sehe daß im Oktober 2009 John Broskie im TubeCAD Journal folgenden geradezu prophetischen Satz äußerte: "The SRPP twist has been applied to solid-state devices for almost half a century, so I expect the technique to be invented soon and used in some $10,000 high-end power amplifiers." Gerd Sauermann reichte seinen Patentantrag im Dezember 2009 ein. Der Sauermann-Verstärker kostet 8500 Euro, was beim heutigen Kurs etwa 10500 US-Dollar ergibt. Nicht schlecht, oder?

Sonntag, 14. September 2014

Der Westen

Ich bin noch in der guten alten Zeit geboren, als "der Westen" eine Himmelsrichtung war. Ich weiß nicht ob es noch viele gibt, die sich daran erinnern. Heutzutage liest und hört man jedenfalls ziemlich viel vom Westen, aber eine Himmelsrichtung scheint nicht damit gemeint zu sein. In den Medien, besonders in den Nachrichten, tut man allenthalben so, als wäre völlig klar, wovon da geredet wird. Als bräuchte es keine Erklärung. Aber mir ist es offen gestanden gar nicht so klar. Besonders wenn es heißt, "der Westen" müßte irgendwas tun, oder er hätte etwas falsch gemacht.

Der Westen hat auch eine Webseite, aber wie man sieht ist das der Internetauftritt einer Zeitung. Aber auch wenn es sicher nicht schaden kann wenn die was tun, so ist doch unwahrscheinlich daß sie gemeint sind. Gemeint ist offenbar etwas größeres, so wie Staaten oder Staatenbünde. Ist mir aber keiner bekannt der so heißt.

Geografisch gesehen fängt der Westen am Nullmeridian an und geht bis an die Datumsgrenze im Pazifik. Vom Nullmeridian aus in die andere Richtung liegt der Osten, und der geht auch wieder bis an die Datumsgrenze, von der anderen Seite her. So hat man es vor Jahrhunderten festgelegt. Der Nullmeridian geht durch Greenwitch in London, das heißt z.B. Deutschland liegt im Osten. Zu 100%. Das kann gelegen kommen, wenn es wieder mal heißt, der Westen müsse was tun. Können wir uns raushalten, wir gehören ja nicht dazu.

Andererseits tut man so, als wäre Europa ein Teil des Westens. Dabei liegt der größte Teil von Europa östlich von Greenwitch, bloß Irland und Portugal liegen ganz im Westen (und natürlich Island, wenn man das dazurechnen will), von Spanien und Großbritannien immerhin der größte Teil. Europa müßte man also eigentlich eher zum Osten als zum Westen zählen. Wobei streng genommen nicht ganz klar ist, wie weit nach Osten Europa eigentlich reicht. Klar ist noch, daß die Grenze durch den Bosporus verläuft, aber am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres wird die Sache etwas willkürlich. Meist legt man die Grenze an das Ural-Gebirge, man müßte also vom Schwarzen Meer ungefähr am Kaukasus entlang bis zum Kaspischen Meer, und dann den Uralfluß hinauf die Grenze ziehen. Das ist vom Nullmeridian gut 5000 km weit nach Osten und umfaßt zwar den kleineren Teil der russischen Landfläche, aber den größten Teil der russischen Bevölkerung. Wenn man Europa so abgrenzt, dann liegen knapp 40% von Europa in Russland. In Deutschland liegen nicht mal 4% von Europa. Zypern liegt dagegen nicht in Europa, sondern in Kleinasien, auch wenn der griechische Teil davon inzwischen EU-Mitglied ist.

Auch von der Bevölkerung her ist der europäische Teil von Russland größer als Deutschland, wir sind also vielleicht das bevölkerungsreichste Land in der EU, aber nicht in Europa. Der Titel geht auch an Russland. Zum Trotz von alldem wird meist nicht so getan, als würde Russland dazu gehören. Nicht zu Europa, und schon gar nicht zum "Westen". Wir sind also kein bißchen weiter. Europa hilft nicht bei der Abgrenzung dessen, was man anscheinend unter "dem Westen" versteht.

Wie steht es mit "Westeuropa"? Hilft das? Welche Länder oder Landstriche gehören denn dazu?

Das ist heutzutage auch nicht mehr so einfach wie zu Zeiten des eisernen Vorhangs. Damals gab es eine gut bewachte Grenze zwischen Westeuropa und Osteuropa, und die schaffte weitgehende Klarheit wer wohin gehörte. Ein paar Unklarheiten gab's auf dem Balkan, aber ansonsten herrschte selbst bei den offiziell neutralen Ländern (z.B. Schweiz) eigentlich kein Zweifel ob sie zum westlichen oder östlichen Teil von Europa gehörten. Hätte man damals von "dem Westen" gesprochen, dann hätte man das sogar einigermaßen klar verstehen können.

Der eiserne Vorhang ist seit bald 25 Jahren verschwunden, also im Grunde eine ganze Generation lang, und mit seinem Verlust sind die Einteilungen in West und Ost in fürchterliche Unklarheit gestürzt worden. Vielleicht benutzt man den diffusen Begriff "der Westen" ja aus Verzweiflung über diesen Verlust von klaren Einteilungen, von ideologisch-geographischer Stabilität. Das hat auch den StAGN beschäftigt. Sein Vorschlag für die sprachliche Abgrenzung schlägt uns Deutsche Mitteleuropa zu, die Westeuropäer wohnen demnach in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und in Großbritannien/Irland. Auch hier sind wir also nicht dabei, wenn's um "den Westen" geht.

Interessant übrigens die "kulturräumlichen" Abgrenzungen in besagtem Vorschlag, die nicht überall auf die Staatsgrenzen fallen. Und selbst da wo sie zusammenfallen kann's interessant sein. Ich sage da mal nichts dazu. Bloß, daß Zypern es irgendwie nach Südosteuropa geschafft hat. Nicht nur kulturräumlich.

Aber da wir nun bei der "Kultur" angekommen sind: Öfter mal wird ja "der Westen" mit den sogenannten "westlichen Werten" identifiziert. Man erklärt damit einen diffusen Begriff mit einem noch diffuseren. Ich überlege, wie man die westlichen Werte wohl formulieren muß, damit sich daraus das abgrenzen läßt, was man "den Westen" nennt.

Man könnte es mit der demokratischen Staatsform in Verbindung bringen. Das würde halbwegs helfen, Russland draußen zu halten, wo die Staatsform immer autokratischere Züge annimmt, und die Demokratie so allmählich bloß noch eine zeremonielle Rolle hat. Aber dann gehört z.B. auch Indien zum Westen. Ob das so gewollt wäre?

Oder man bringt es mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem in Verbindung. Das hat den Nachteil, daß gerade Russland, oder auch China, in mancherlei Hinsicht ungehemmteren Kapitalismus betreiben als wir hier in Deutschland. Oder sollten wir gerade den Grad der Ungehemmtheit als Kriterium heranziehen?

Vielleicht ist's aber auch die Religion. Wir haben hier immer noch mehrheitlich das Christentum, wenn auch schrumpfend. Aber das haben auch die Russen. Es ist dort zwar das orthodoxe Christentum, aber so groß ist der Unterschied nicht. Die katholische Obrigkeit sieht den Katholizismus näher an der Orthodoxie als am Protestantentum. So gesehen wird es schwer fallen, den Unterschied für bedeutend genug für eine solche Abgrenzung zu erklären.

Überhaupt: Diese christliche Religion kommt von bedenklich weit aus dem Osten (auch wenn er der "nahe Osten" heißt), und ist schon von daher verdächtig, wenn man damit eine Abgrenzung "des Westens" gewinnen will. Sollte man also sagen, der Westen sei diejenige Weltgegend, wo eine Religion aus dem nahen Osten dominiert, während der Osten sich zunehmend ungebremstem Kapitalismus hingibt, einer Wirtschaftsideologie, die aus dem Westen kommt?

In all dem Chaos wünschen sich offenbar sehr viele Leute die Klarheit des kalten Krieges zurück. Man vermißt die eindeutige Demarkationslinie zwischen West und Ost, die das Denken, die Sprache und die Politik vereinfacht. Kein Wunder, daß Putin den Zusammenbruch des Sowjetimperiums als eine Jahrhundert-Katastrophe wahrnimmt. Auf ein Imperium könnte man vielleicht zur Not verzichten, das haben auch schon Andere geschafft. Aber was tut man ohne klare Grenzen?

Das hat auch der ukrainische Präsident Poroschenko erkannt. Die Mauer zwischen den beiden Deutschlands hat er bestimmt als große Vereinfachung des politischen Geschäfts noch gut in Erinnerung, und es ist ihm aufgegangen, wie nützlich so ein klar sichtbares Trennungssymbol zwischen "Uns" und "Denen" in der Praxis ist. Der Mensch braucht das.

Auch in den Äußerungen vieler Politiker und auch Bürger sowohl hierzulande wie auch in anderen Ländern scheint auf, wie sehr sie sich noch immer am Denkschema des kalten Krieges orientieren. Manchmal scheint es mir, als hätte es die letzten 25 Jahre gar nicht gegeben. Die Frage, welche Regierung sich die Ukraine gibt, und welchen Bündnissen sie beitritt, wird nicht als das Problem und die Verantwortung der dortigen Bürger betrachtet. Vielmehr sieht man sie je nach ideologischer Position als zum russischen Einflußgebiet zugehörig oder zum "westlichen", so daß die "westlichen" und die russischen "Sicherheitsbedürfnisse" als letztlich wichtiger als der Wille der Ukrainer gelten.

Dadurch kann man die politische Landschaft dergestalt vereinfachen, daß man den politischen Willen der einzelnen Völker vernachlässigt, wie das auch seinerzeit im kalten Krieg war. Was zählt ist die Zugehörigkeit zu einem Block. Daß jeder Block seinen Einflußraum und Vorgarten zu befestigen sucht wird als selbstverständlich betrachtet.

In so einem Szenario ist das Errichten einer Mauer folgerichtig. Man legt dadurch quasi den politischen Nullmeridian fest, und in der Folge weiß man genau was im Westen liegt und was im Osten. Die Sprache war zuerst da, die Realität folgt dann nach. Die jüngeren Leute, die den kalten Krieg nicht mehr bewußt erlebt haben, werden dann mitkriegen, wie das damals war.

Donnerstag, 21. August 2014

Distortion of Truth

Daß unqualifiziert auf MP3 rumgeprügelt wird, vor allem im audiophilen Sektor, ist ja nichts Neues. Ein im vorigen Monat erschienener "Dokumentations-Kurzfilm" von Harman hat die Heuchelei und die Verdummung jetzt aber auf die Spitze getrieben. Da wurde offensichtlich ein erheblicher Aufwand getrieben, einschließlich eigener Webseite. Dort könnt Ihr Euch das Machwerk selbst ansehen. Eine ganze Reihe von Audio-Promis wurden dafür interviewt, und aus deren Aussagen dann eines der übelsten Desinformations-Propaganda-Videos zusammengeschnitten, das ich im Audiosektor kenne. Und das von Harman, einem ansonsten einigermaßen seriösen Unternehmen. Ich versuche gerade, meine Schnappatmung zu kontrollieren.

Der Ausgangspunkt dafür ist ja durchaus nobel: Die Audioqualität vieler Musikproduktionen ist seit vielen Jahren viel zu schlecht, und dagegen muß man was tun. Das liegt, wie wohl inzwischen die meisten Leute wissen dürften, wenigstens diejenigen, die sich dafür interessieren, am Lautheitskrieg. Am Bestreben der Musikindustrie, die empfundene Lautheit der Musik so weit als möglich zu steigern, in der Erkenntnis daß man so die Verkaufszahlen steigern kann, und das durch Anwendung von immer ausgefeilteren Techniken der Dynamikkompression. Daß dabei die Audioqualität auf der Strecke bleibt, hat man in Kauf genommen.

Nun wird leider das Wort "Kompression" auch in einer anderen Bedeutung benutzt, nämlich bei MP3 (und vielen anderen ähnlichen Verfahren, die seither entstanden sind) im Sinne von "Datenkompression". Man würde wahrscheinlich besser "Datenreduktion" sagen, um die Verwechslungsgefahr zu verringern, aber leider ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Datenkompression hat mit Dynamikkompression nichts zu tun, was jeder Audio-Profi wissen muß. Trotzdem bringt es Harman im Video fertig, die beiden miteinander zu verwechseln.

Und so kommt es zu einer Assoziationskette, die der Film bewußt nahelegt, die letztlich MP3 zum Sündenbock für ein Problem macht, das dem Lautheitskrieg geschuldet ist. Das einzige was die beiden verbindet ist der Begriff "Kompression", und daß der in zwei völlig unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird, geht im Film komplett unter.

Dieses Mißverständnis hat Harman nicht erfunden, es kursiert schon länger unter den Ahnungslosen im Audiosektor. Ich finde, es wäre einer professionellen Firma, die als seriös wahrgenommen werden will, gut angestanden, zur Aufklärung des Fehlers beizutragen. Stattdessen befördert man ihn noch, im Dienst eines verlogenen Propaganda-Machwerks. Und dabei macht schockierenderweise sogar Sean Olive mit, ein ansonsten seriöser Mann, auf dessen Blog ich schon seit langem hier verlinke. Im Moment ist er dazu noch der Präsident der Audio Engineering Society.

Nur um das mal auf der technischen Seite klar zu stellen: Datenkompression versucht, den reinen Datenumfang von Audiodateien zu verringern, möglichst ohne dabei hörbare Veränderungen am Audio-Inhalt zu verursachen. Es gibt dafür lossless-Verfahren (z.B. FLAC), die so arbeiten daß die Originaldaten Bit für Bit wieder gewonnen werden können. Das ist so ähnlich wie bei den vom Computern allseits bekannten ZIP-Dateien. Damit kann man die Größe der Audiodateien auf ungefähr die Hälfte reduzieren. Mehr Reduktion geht über das Ausnutzen der Eigenschaften des Gehörs, also durch "psychoakustische Datenreduktion". Die Originaldaten sind dann nicht mehr Bit für Bit rekonstruierbar, aber das Ergebnis sollte sich noch immer genauso anhören wie das Original, weil das Verfahren nur Veränderungen vornimmt, deren Auswirkungem man (normalerweise) nicht hört. Wie gut das funktioniert, hängt davon ab welches Verfahren man nimmt (es gibt inzwischen ziemlich viele; MP3 ist so etwas wie ein Urahn, in dessen Folge weitere Verfahren mit teils verbesserten Leistungen aufgekommen sind), und welches Maß an Datenreduktion man wählt (also die resultierende Bitrate). Es liegt auf der Hand: Je stärkere Datenreduktion man wählt, desto größer wird die Gefahr, daß man hörbare Effekte bekommt. Von nichts kommt eben auch in diesem Fall nichts. Ebenso liegt auf der Hand, daß der Verlust an Qualität, wenn er denn hörbar werden sollte, endgültig ist. Wenn es möglich wäre, das Original irgendwie zu rekonstruieren, dann könnte das auch schon der Dekoder, und das Problem würde nicht existieren.

Die Datenreduktion (oder Datenkompression) versucht also ausdrücklich, das Audio unverändert zu lassen. Demgegenüber ist die Dynamikkompression ausdrücklich dazu da, das Audio zu verändern. Es geht darum, den Unterschied zwischen leise und laut geringer zu machen. Das ist zum Teil ein nützliches Mittel, um ein Musikstück besser hörbar zu machen, und in dieser Form ein legitimes und seit langem angewandtes Stilmittel in der Produktion. Man kann es aber auch dazu benutzen, das Musikstück lauter zu machen, weil man weniger "Headroom" für Signalspitzen reservieren muß. Genau das ist der Kern des "Lautheitskrieges", der im Wesentlichen seit etwa 20 Jahren ausgetragen wird, und zwar völlig unabhängig von MP3 und Konsorten, nämlich vor allem im Radio und bei der CD. Man braucht dazu noch nicht einmal Digitaltechnik, obwohl die natürlich eine ganze Reihe von verbesserten Werkzeugen dafür liefert. Im Kern könnte man den Lautheitskrieg bereits mit analogen Mitteln bestreiten.

Zusammengenommen werden diese beiden eigentlich voneinander unabhängigen Techniken jedoch besonders übel, was vielleicht zur Konfusion beiträgt. Ein durch Dynamikkompression maximal laut gemachtes Musikstück kann man praktisch nicht mehr digital bearbeiten, ohne weiteren Schaden anzurichten. Die Pegel sind derart "an die Wand" gefahren, daß jede Bearbeitung die Gefahr birgt, daß man die Grenze überschreitet und weitere Verzerrungen verursacht. Sogar das in den meisten D/A-Wandlern benutzte Oversampling ist nicht mehr gefahrlos möglich, was bedeutet daß man dieses Material noch nicht einmal verzerrungsfrei abspielen kann. Stichwort: "Intersample Over". Umso weniger kann man dieses Material gefahrlos durch einen MP3-Encoder schicken.

Man müßte zuerst einige dB an Pegel herausnehmen, bevor man den Encoder darauf losläßt. Das macht aber fast niemand, vielleicht aus Unwissen. Jedenfalls scheint es den meisten Online-Diensten, die MP3-Material verteilen, egal zu sein. Insofern ist an der Kritik an MP3 etwas dran, denn Übersteuerungen, die auf diese Weise entstehen, sind tatsächlich hörbar.

Bloß ist es höchst unfair, MP3 dafür verantwortlich dafür zu machen, denn der Verursacher des Problems ist der Mastering-Ingenieur, der das Material zuvor lautheitsmaximiert hat. So gut wie jede Bearbeitung eines Audiosignals braucht Headroom, ansonsten drohen Verzerrungen. MP3 ist da keine Ausnahme. Nimmt man jeden Headroom weg, dann erzwingt man geradezu Verzerrungen in jeder nachträglichen Bearbeitung. Wie gesagt im Extremfall schon bei der D/A-Wandlung, MP3 braucht da gar nicht ins Spiel zu kommen. Wer von MP3 erwartet, unter diesen Umständen immer noch verzerrungsfrei zu arbeiten, verlangt das Unmögliche.

Wenn man sich im Klaren darüber ist, wo das Problem in Wirklichkeit entsteht, dann stößt einem der Film umso saurer auf. Etliche der im Film so salbungsvoll daher redenden Protagonisten müßten sich dann eher an die eigene Nase fassen, bevor sie mit MP3 etwas zum Sündenbock machen, was nichts dafür kann. Es ist auch bezeichnend, daß im Film sogar die verlustlosen Datenreduktionsverfahren in einem Zug mit den verlustbehafteten Verfahren genannt werden. Da sieht man die Verlogenheit (kann es bei einer Firma wie Harman Ahnungslosigkeit sein?) besonders gut.

Unter den Protagonisten des Films findet man z.B. Andrew Scheps, der als Toningenieur an der Produktion von "Death Magnetic" von Metallica beteiligt war, ein veritabler "Negativ-Meilenstein" in der Geschichte des Lautheitskriegs. So übel, daß die Platte dafür berühmt wurde. Hatte der Mann eine Erleuchtung, oder nutzt er bloß die Gelegenheit, die Schuld, die er eigentlich selber trägt, auf MP3 zu schieben?

Ich kann auch die Musiker nicht mehr hören, die so tun als müßte man ihnen nur mehr Kontrolle geben, dann würde die Tonqualität besser. Viele der Musiker waren in der Vergangenheit an der Lautstärkemaximierung zwecks Verkaufsförderung selbst interessiert und beteiligt. Auch im Falle von Metallica ist ein Interview des Drummers Lars Ulrich aktenkundig, in dem er, auf die Verzerrungen angesprochen, die Produktion ausdrücklich verteidigt hat, was deutlich macht daß nicht nur der Produzent, sondern auch die Band das so wollte. Auch wenn das nicht auf alle Musiker zutreffen mag: Wenn sie vor der Alternative stehen ob das Ergebnis besonders gut klingen soll oder besonders laut sein soll, dann wählen eben viele das Zweite. Die Technik, einschließlich MP3, ist nur insofern "schuld", als sie ihnen diese Entscheidung aufzwingt, wo sie doch am liebsten beides hätten: Optimale Qualität, aber lauter als alle Anderen. Die Orgie, aber keinen Kater.

Wer auf die Orgie nicht verzichten will, der sollte eben auch den Kater aushalten, und nicht alle und alles Andere dafür verantwortlich machen.

Und wenn ein Musiker der Qualität den Vorzug gibt, dann muß er eben Einfluß auf den Produzenten nehmen, der dafür verantwortlich ist. Wenn der Produzent ein anderes Produkt herstellen läßt als es der Musiker haben will, dann arbeiten da wohl die falschen Leute zusammen. Das ist kein Problem, das man mit Propagandavideos löst.

Das zentrale Problem bei der Audioqualität, besonders wenn Digitaltechnik im Spiel ist, also heutzutage praktisch immer, ist ein maßvoller, verantwortungsvoller Umgang mit den Pegeln, also die Bewahrung von ausreichend Headroom. Das ist eine uralte Weisheit, die schon bei der Analogtechnik gegolten hat, und mit der Digitaltechnik nur noch wahrer und wichtiger wurde. Hält man sich daran, dann ist auch MP3 kein Problem, dann funktioniert es wie es soll, und produziert auch nur in Ausnahmefällen hörbare Verzerrungen, so lange man genug Bitrate spendiert. Der Ball liegt da im Feld der Produzenten und der Tontechniker, und nicht bei den Entwicklern und Anwendern von MP3.

Das müßte man eigentlich auch bei Harman wissen. Aber anscheinend will man da mit Lügen Geld verdienen. Das versucht mindestens mal deren "Clarifi"-Brand, eine Harman-Firma, die verspricht, den Schaden rückgängig zu machen, den ein MP3-Encoding anrichtet. Etwas, was gar nicht gehen kann. Man kann die Verzerrungen allenfalls etwas "aufhübschen".

Was für eine Heuchelei! Ihr solltet Euch schämen, Harman!

Donnerstag, 10. Juli 2014

Augenhöhe

Ich wollte eigentlich meine Kommentare zu Nicht-Audio-Themen stark eingeschränkt halten, aber die neuere Entwicklung in der NSA-Spähaffäre juckt mir dann doch in den Fingern. Das wäre dann schon der dritte Beitrag zu diesem Thema, nach diesem und diesem.

Nach dem Abhören des Kanzlerinnen-Handies ist nun mit der Entdeckung zweier "Doppelagenten" im BND und beim Militär zum zweiten Mal der Punkt erreicht, an dem unsere eigene Regierung den Eindruck ernsthafter Verstimmtheit zu erwecken versucht. Es geht sogar so weit, daß Minister Schäuble den USA Dummheit vorgeworfen hat. Und man hat dem obersten Geheimdienstler der USA in Deutschland die Heimreise nahegelegt.

Dabei war ich geradezu erleichtert zu erfahren, daß die USA offensichtlich noch nicht auf die Anwendung konventioneller, ja geradezu traditioneller Spionagemethoden verzichten können. Man hört die gesamte Kommunikation der Welt ab, aber braucht offenbar doch noch immer menschliche Zuträger, die einem für Geld Dokumente liefern. Wer hätte das gedacht!

Und wie billig das im Vergleich ist! Für mehrere Hundert Dokumente sollen gerade mal 25000 Euro nötig gewesen sein! Man stelle sich vor, ein großer Teil der enormen Budgets der amerikanischen Geheimdienste würde für Agentenlohn und Bestechungsgeld ausgegeben statt für Massenabhörtechnik, welche Berge von Dokumenten man dafür kriegen könnte! Die Perspektiven, die sich dadurch für die Terrorbekämpfung ergeben, sollte man sich klar machen: Man gibt ein paar gut platzierten Leuten einen Fuffi, und sie sagen einem was sie wissen. Die ganze teure Massenüberwachung wäre unnötig.

Warum nimmt unsere eigene Regierung gerade das so ernst?

Als Erklärung pflegt man darauf hinzuweisen, daß sich das unter Freunden nicht gehört, und daß die Bundesrepublik die USA natürlich nicht in dieser Form bespitzelt. Man redet von Vertrauensbruch und Belastung der transatlantischen Freundschaft. Und in neuester Zeit eben von Dummheit auf Seiten der USA.

Ich bin anderer Meinung. Ich sehe das als Zeichen von Dummheit auf Seiten der Bundesrepublik. Und wo es nicht Dummheit ist, da ist es Heuchelei, und der Versuch, vom eigentlichen Problem abzulenken.

Es ist ja schon einmal deutlich, daß sich die Bundesregierung nur dann öffentlichkeitswirksam aufregt, wenn sie selbst ausgespäht wird, nicht aber wenn das deutsche Volk oder die deutsche Wirtschaft ausgespäht wird. Daran hat sich im letzten Jahr nichts geändert. Die massenhafte Ausspähung der ganzen Gesellschaft ist für die deutsche Regierung kein Anlaß zu "ernsthaften" Reaktionen, und die Aufklärung dieser Ausspähung wird behindert so gut es geht. Die konventionellen Spionageaktionen gegen die Bundesregierung werden auch deswegen so ernst genommen, weil dadurch der Blick der Öffentlichkeit abgelenkt werden kann.

Man muß sich auch klar machen daß die beiden jüngsten Spionagefälle nicht an die Öffentlichkeit gedrungen wären, wenn die Bundesregierung das nicht gewollt hätte. Jede Überraschung ist da gespielt, denn kein Staatsanwalt hätte es gewagt, einen politisch so brisanten Ermittlungsfall ohne Abstimmung mit den zuständigen Ministerien an die Öffentlichkeit zu geben. Staatsanwälte sind hierzulande ja Untergebene des Justizministers. Noch vor einem Jahr wäre so etwas hinter den Kulissen geräuschlos geregelt worden. Und die USA konnten auch erwarten, daß das - wie immer - geräuschlos geregelt würde. Warum also hätten sie sich zurückhalten sollen? Zumal ja auch völlig unglaubwürdig ist, daß die Bundesregierung erst jetzt gemerkt haben will, daß die Amis in Deutschland spionieren. Den meisten Leuten dürfte klar sein, daß die Dienste der USA schon seit vielen Jahren in Deutschland spionieren, mit Wissen und unter Duldung und Deckung der Bundesregierung.

Was also will die Bundesregierung erreichen, wenn sie von der langjährigen Praxis abweicht, und jetzt versucht, in der Öffentlichkeit Kapital daraus zu schlagen?

In den USA glaubt man, daß das damit zu tun hat, daß Deutschland sich gegenüber der "Five Eyes" zurückgesetzt fühlt. Diese Gruppe von 5 englischsprachigen Ländern (USA, die Briten, Kanada, Australien und Neuseeland) arbeitet geheimdienstlich besonders eng zusammen, und die deutsche Regierung möchte gerne dazu gehören. Das Streben nach einem "No-Spy-Abkommen" fußt auf dem gleichen Gefühl der Zurückweisung, und in den USA scheint man die jüngsten Ereignisse als einen Versuch der Bundesregierung zu sehen, Druck auf die USA in Richtung Aufnahme in den erlesenen Club auszuüben, oder wenigstens als ein Zeichen der Frustration der Bundesregierung, daß man da nicht weiter kommt.

Es geht, mit anderen Worten, nicht etwa darum daß die Bundesregierung die ganze Spioniererei schlecht finden würde. Im Gegenteil, sie möchte in den Club aufgenommen werden, der am allerintensivsten spioniert. Was die alles können! Was die alles dürfen! Was die sich alles erlauben, ob sie's dürfen oder nicht! Da möchte man dabei sein! Da muß man dabei sein! Es muß weh tun, immer wieder abzublitzen, kein Wunder daß man irgendwann aus Frust den Amis an's Schienbein tritt.

Dabei haben im letzten Jahr die USA und auch die Briten keinerlei Gelegenheit ausgelassen, uns Deutschen klar zu machen, daß da nichts draus werden wird, daß wir nicht den Vertrauensstatus genießen, der dazu nötig wäre. Die ganzen Beschwörungen der transatlantischen Freundschaft, die Vertrauensrhetorik, stammt von unseren deutschen Politikern, nicht aus den USA. Daß wir befreundete Staaten seien, deren gegenseitiges Vertrauen Spionage unnötig und unangebracht macht, ist reines Wunschdenken der deutschen Seite, keine gemeinsam getragene Ansicht zwischen Berlin und Washington. Die USA versucht seit Monaten, uns das klar zu machen, sowohl auf der politischen Ebene als auch auf der Ebene der Medien.

Für die USA sind wir keine befreundete Nation in irgendeinem konkreten, handfesten Sinn. Man mag das in Sonntagsreden beschwören, in der politischen Praxis sieht man uns eher als unsicheren Kantonisten, auf den im Ernstfall kein Verlaß ist. Wir haben diese Haltung schließlich auch mehrfach genährt, indem wir uns aus mehreren militärischen Aktionen herausgehalten haben, bei denen uns Washington gerne dabei gehabt hätte. Zudem haben wir versucht, spezielle Kontakte zu Russland zu unterhalten, bis hin zum Fall des Ex-Bundeskanzlers Schröder, der für ein deutsch-russisches Unternehmen den Aufsichtsrat leitet. Kurz gesagt sind wir dem USA für eine echte Freundschaft nicht loyal genug.

Nun gehöre ich bestimmt nicht zu denen, die angesichts dieses Umstandes dafür wären, den Amis noch tiefer in den Hintern zu kriechen. Eher schon sollte man das überholte Wunschdenken ablegen, nach dem wir die wichtigsten und wertvollsten Freunde der USA wären. Wir sehen für die USA zunehmend wie ein alternder Zögling aus, der sich weigert erwachsen zu werden. Wie ein 50-jähriger Sohn, der immer noch bei der Mutter wohnt und sich von ihr die Unterhosen waschen läßt, aber nicht möchte daß die Mutter guckt mit welchen Frauenbekanntschaften er sich trifft. Mir scheint, die Amis versuchen uns zunehmend deutlich zu machen, daß wir verdammt nochmal endlich die Arschbacken zusammenkneifen, und auf eigenen Füßen stehen sollen.

Es täte uns Deutschen, und gerade auch der Bundesregierung, gut wenn wir so schnell wie möglich die Kränkung hinunterschlucken, daß wir nicht mehr Mama's Liebling sind. Und dazu empfehle ich, in der öffentlichen Diskussion die Verwendung der politischen Hohlworte "Vertrauen" und "Freundschaft" peinlichst zu vermeiden. Was hier zählt sind Interessen, und ein möglichst nüchterner Blick darauf, wo diese Interessen übereinstimmen und wo nicht.

Dann merkt man auch schnell, daß die deutschen Interessen nicht mit denen der "Five Eyes" übereinstimmen, und daß wir deshalb da auch ganz berechtigterweise nicht dazu gehören. Daß es unsere Dummheit ist, dazugehören zu wollen, und nicht die Dummheit der USA, uns nicht reinzulassen.

Im Hintern ist man nicht auf Augenhöhe. Wer also den Anspruch hat, den USA auf Augenhöhe entgegen zu treten, muß zuerst aus ihrem Hintern heraus kommen. Berlin scheint das noch nicht kapiert zu haben. Wenn wir das konsequent täten, dann hätten wir auch eine Chance daß uns die USA als Partner (nicht Freund) akzeptieren und respektieren, gerade auch dann wenn sich unsere Interessen unterscheiden.

Samstag, 21. Juni 2014

Aftermarket-Musen

Angenommen, Du bist Marketingmensch bei einem Chiphersteller. Operationsverstärker und andere Audiochips. Bisher war Deine Firma für gute Qualität bei ziemlich niedrigem Preis bekannt, weshalb die Chips praktisch überall im Massenmarkt eingebaut werden, von den übelsten Ghettoblastern bis hin zur Nobelklasse und dem Profisegment. Das Problem: Niedrige Preise, das heißt auch niedrige Marge, und das bedeutet man verdient Geld nur über die hohe Stückzahl.

Und dann siehst Du zu, wie eine Firma wie Texas Instruments, genauer ihre vor Jahren eingemeindete Marke "Burr-Brown", ihre teuersten OpAmps in den Audiophilen-Markt verkauft, und gutes Geld damit verdient. OPA627, da kriegt so mancher leuchtende Augen. Eine Suche nach "OPA627" bei ebay reicht, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Da verkaufen Leute sogar Adapterplatinchen, damit man mit zwei Einfach-Operationsverstärkern wie dem OPA627 einen Doppel-Operationsverstärker ersetzen kann, wie er in den meisten Geräten verwendet wird.

Du wärst kein Marketingmensch, wenn Du da nicht überlegen würdest, wie man seine Pfoten in diese Torte kriegt.

Also mal überlegen, wie stellt man das an? Wie sieht der angepeilte Kunde aus, welche Eigenschaften muß das Produkt haben, wieviel muß es kosten, und wie muß das Marketing dafür aussehen?

Der angepeilte Kunde
  • hat keine Ahnung von elektronischer Schaltungstechnik
  • will in seinen Geräten OpAmps tauschen, um sie "klanglich aufzuwerten"
  • ist Subjektivist und läßt sich daher mit subjektiven Klangargumenten beeindrucken
  • ist Materialfetischist
  • hat kein Problem damit, signifikant Geld in Nippes zu stecken
  • hält sich für gehörmäßig begnadet
Das Produkt muß daher
  • bastelsicher sein, also möglichst ohne Komplikationen anstelle normaler OpAmps einsetzbar sein
  • muß ein Doppel-Opamp im Standard-DIL8-Gehäuse mit Standard-Pinout sein.
  • muß exotische Materialien beinhalten, die eine Preisrechtfertigung liefern können
  • trotzdem günstig herstellbar sein
Der Preis muß
  • höher sein als zwei OPA627
  • noch innerhalb des Rahmens bleiben, der für Basteleien akzeptiert wird
Das Marketing muß
  • die subjektive Ebene ansprechen
  • das übliche audiophile Vokabular bedienen, mit dem sich die Zielgruppe identifiziert
  • betonen, daß technische Spezifikationen den Klang nicht ausdrücken können
  • die exotischen Materialien herausheben und für sie eine Pseudobegründung erfinden
  • Nachahmer bekämpfen
Guter Plan, oder? Die Erfahrung über die letzten Jahre hat zweifelsfrei gezeigt, daß die Anzahl an OpAmp-Tauschern groß genug ist, daß sich ein ganzer Markt darum gebildet hat, bis hin zu ziemlich komplexen Modulen, wo die OpAmp-Funktion mit diskreten Bauelementen nachgebildet wird. Kann nichts schief gehen.

Also, tata! Vorhang auf! MUSES!

Kleine Komplikation: Es gibt zwei Alternativen, den MUSES01 und den MUSES02. Einer mit JFET-Eingang, der andere bipolar. Der typische OpAmp-Tauscher ist völlig überfordert damit, zu entscheiden welcher in einer bestimmten Anwendung besser passt. Er wird sich also beide anschaffen müssen, um sie gegeneinander zu testen, und das verdoppelt gleich mal die Investition, mit der Aussicht, die Hälfte davon danach nicht zu nutzen. Das ist psychologisch schlecht. Da haben sich dummerweise vermutlich die Techniker durchgesetzt, mit Argumenten, die zwar Hand und Fuß haben, die der Kunde aber nicht versteht.

Noch eine Komplikation: Es nutzt wenig, vor Nachahmern zu warnen, wenn der übliche OpAmp-Tauscher die Chips bloß über ebay beschaffen kann. Ein DIL8-Gehäuse täuschend echt zu bestempeln kriegt in Fernost jede Frickelbude hin. Wie kriegt der übliche Bastler heraus ob das Kupfer in den OpAmp-Anschlüssen nun wirklich sauerstoffrei ist, oder ob man ihn geleimt hat?

Das ist halt die Krux bei einer solchen Marketing-getriebenen Hoch-Margen-Strategie: Es ist sehr leicht für Trittbrettfahrer, die Marketinganstrengungen, die ein Anderer macht, zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. Der "Mehrwert" steckt ja ausschließlich im aufgebauten Image, und nicht im Produkt selbst. Wer sich das Image zunutze machen kann, ohne die dafür nötigen Ausgaben selbst leisten zu müssen, der kann da prima Parasit spielen.

Witzigerweise schafft NJRC selbst dafür die allerbesten Voraussetzungen, denn es gibt "Mass Market" Versionen der zwei OpAmp-Typen für wesentlich weniger Geld (relativ zu "normalen" OpAmps aber immer noch sehr viel), bei denen es so aussieht als wären die gleichen Chips drin, bloß nicht auf einem Leadframe aus sauerstoffreien Kupfer. Worin der Unterschied genau besteht ist nicht so klar, aber es scheint mir eben als ob es auf's Leadframe hinaus läuft. Im Grunde ist damit schon NJRC selbst der erste Nachahmer seiner eigenen Produkte.

Überhaupt liegen die technischen Daten der Chips nicht signifikant anders als schon bei einigen der bisher bekannten und weit verbreiteten NJRC-Produkte, die für Cent-Beträge in großen Stückzahlen verkauft werden, z.B. dem NJM4580. Aber klar: Die großen klanglichen Vorteile kann man natürlich nicht in technischen Daten ausdrücken.

Grins.

Sonntag, 1. Juni 2014

Modell und Wirklichkeit

"Kaum zu fassen! Wie kann das sein? ... Den Effekt möchte ich als sehr groß zum Positiven beschreiben. In ALLEN Teildisziplinen, auf die ich achte, ist der Klang nun deutlich wahrnehmbar besser geworden. Schlicht unglaublich, ich war total baff! Besser sind Druck, Dynamik, Hintergrundschwärze, Detailreichtum, Bass, Staffelung, Plastizität, Klangfarben in den Mitten."
Was hier so enthusiastisch beschrieben wird ist das Ergebnis einer "Tuning"-maßnahme. Nämlich eines Sicherungstausches bei einem Pärchen Aktivlautsprecher.

Nun will ich nicht nochmal über den hier zum x-ten Mal aufgewärmten Sicherungsblödsinn referieren. Das habe ich hoffentlich hier ausreichend getan, ergänzt vielleicht noch durch den Verriß eines einschlägigen "Testberichtes" in der "Fachpresse".

Mir geht es auch nicht um die Pikanterie, daß hier unausgesprochen der Hersteller der Aktivlautsprecher für unfähig erklärt wird, was die geneigten Forendiskutanten noch gar nicht bemerkt zu haben scheinen. Schließlich müßte man bei derart frappierenden Klangverbesserungen ja automatisch auf den Gedanken kommen, daß das auch dem Hersteller selbst hätte auffallen können. Und der Hersteller ist in diesem Fall einer der Mitforisten (Gert Volk aka "fortepianus"). Wenn man durch bloßen Sicherungstausch ein Produkt dermaßen verbessern kann, das für einen Preis verkauft wird, bei dem die Kosten einer Sicherung sicherlich keine Rolle spielen, dann hat der Hersteller doch versagt, oder etwa nicht?

Aber das soll er bei Gelegenheit selber erklären, ich freue mich schon darauf wie er sich herauswindet. Mir geht's einstweilen eher um das was der Themenersteller so ausdrückte:
"Wie kann das nun sein, habe ich mich gefragt."
Und es folgt eine Litanei von technischen Spekulationen, die die faktische Wahrheit und Wirklichkeit der gehörten Verbesserung nicht mal im Ansatz in Frage stellt, die jegliche Möglichkeit von Wahrnehmungsirrtümer völlig ignoriert, die stattdessen aber auch die unwahrscheinlichste technische Pseudoerklärung eines technisch halbgebildeten für bare Münze nimmt, selbst wenn die den eigentlich (in diesem Forum) auf Händen getragenen Hersteller des Lautsprechers dumm aussehen läßt.

Ich frage mich stattdessen, wie kann es sein, daß dem Typen nicht auffällt, daß da irgend etwas ganz grundsätzlich faul sein muß bei seiner Herangehensweise? Wirklich ehrlich und ergebnisoffen kann er sich wohl kaum gefragt haben!

Interessanterweise kommt da ein Beitrag sehr gelegen, den der Deutschlandfunk letzten Donnerstag ausgestrahlt hat. Das Manuskript dafür findet man online, und nachhören kann man den Beitrag ebenfalls (siehe den Link am Ende des Manuskripts). Es geht da um Forschungsergebnisse, speziell aus der Berliner Charité, zum Thema des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit.

Für den Audiophilen ist der Fall klar: Meine Wahrnehmung ist die Wirklichkeit. Zweifel daran verbieten sich von selbst, denn das würde ja bedeuten ich hätte mir was eingebildet, und wenn's um Klänge geht, dann bildet sich ein wahrer Audiophiler nichts ein, basta. Erst recht nicht wenn's so deutlich, so frappierend war!

Daß diese Sichtweise der Dinge in diesem speziellen Forum privilegiert behandelt wird, dafür sorgen schon die "Funktionäre", insofern kommen wir unbeteiligten Beobachter in den Genuß solch unverblümter Demonstrationen audiophiler "Philosophie", die sie sich anderswo vielleicht wenigstens ansatzweise verkniffen hätten.

Wir Anderen ahnen zumindest, daß sich die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit nicht ganz so einfach darstellt, und daß da der eine oder andere "Wahrnehmungsunfall" passieren kann. Darauf wirft der Radiobeitrag ein Licht, und weil ich das in unserem audiophilen Kontext interessant finde, will ich mich hier ein wenig darüber ausbreiten. Ersetzen wir also mal spaßeshalber den als Beispiel verwendeten Tintenfisch im Radiobeitrag durch eine audiophile Sicherung, und sehen was sich dann argumentativ draus ergibt.

Hat "Salvador" die Sicherung gehört, so wie im Beitrag der Taucher den Tintenfisch gesehen hat?
Gehört hat Salvador nur ein verzerrtes Schattenbild der Sicherung. Die wahre Sicherung, das Sicherungsideal existiert im Reich der reinen Ideen, sagt Platon.
Aber halt! Stimmt ja gar nicht! Der Tintenfisch wurde gesehen, aber die Sicherung wurde nicht gehört! Gehört wurde Musik, die über eine Anlage wiedergegeben wurde, in der sich die Sicherung befand. Wenn für die Musik der Tintenfisch steht, was steht dann für die Anlage, und was für die Sicherung? Ist die Anlage das Wasser, in dem der Tintenfisch schwamm? Dann wäre die Sicherung vielleicht der Filter der Kläranlage, durch die das Wasser zuletzt floß. In den Farben des Tintenfisches würde man den Filter der Kläranlage sehen. "Verzerrtes Schattenbild", in der Tat!

Aber das war ja erst Platon, es folgt Hume:
Nein, nein, entgegnet David Hume. Er hat Schallwellen wahrgenommen, in einem räumlichen und zeitlichen Muster. Die Schallwellen waren assortiert, erst sein Geist hat daraus den Sicherungsklang gemacht.
Stimmt natürlich. Man hört noch nicht einmal Musik, man hört Schallwellen. Musik entsteht dann im Gehirn. Bevor daraus eine Sicherung wird, ist der Weg noch viel weiter.
Falsch, verspricht Gottfried Wilhelm Leibnitz. Der Klang der Sicherung in seinem Geist hat zwar keine direkte Beziehung zu der Sicherung im Gerät. Aber Gott hat Geist und Welt in Harmonie geschaffen. Deshalb kann er seinen Ohren trauen.
Mit Verlaub, ist das nicht etwas zu viel Gottvertrauen?
Die Sicherung an sich, sie kann er nicht erkennen, widerspricht Immanuel Kant energisch. Der Geist formt die Sinneseindrücke nach seinen eigenen Gesetzen, ordnet sie in Raum und Zeit, schließt auf Ursache und Wirkung. Wie die Welt, wie die Sicherung wirklich ist, darüber könne man nur spekulieren und solle besser schweigen.
Solche Spekulationen machen dem Audiophilen zu viel Freude als daß er darüber schweigen könnte, also wird diese Empfehlung von Kant wohl ins Leere laufen. Was er nicht begreift ist dies:
Georg Northoff: "Weil in jeder Erfahrung der Welt immer schon der eigene Beitrag des Gehirns, ich sage mal, mitkommt oder mitmischt, ist es für uns wirklich schwierig, zu trennen, was ist unser eigenes Gehirn und was ist wirklich die Welt selber, unabhängig vom Gehirn."
Um das nochmal einzureiben: Die Schwierigkeit liegt darin, zweierlei voneinander zu trennen:
  1. Die Wirklichkeit
  2. Den Beitrag des Gehirns
Ich könnte die Audiophilen ansatzweise ernst nehmen, wenn ich erkennen könnte daß sie sich um diese Trennung ernsthaft bemühen. Stattdessen finde ich immer wieder Audiophile, die mir weis zu machen versuchen, diese Trennung sei gar nicht nötig oder sinnvoll. Es gehe schließlich beim Musikhören um die Wahrnehmung, und eben nicht um die Wirklichkeit.

Wenn das so ist, dann geht es auch nicht um Sicherungen. Dann sind die Audiophilen selbst höchst inkonsequent. Man kann nicht auf der einen Seite die Wahrnehmung (einschließlich des Beitrags, der vom Gehirn geleistet wird) über die Wirklichkeit stellen, und zugleich auf der anderen Seite für alle wahrgenommenen Effekte irgendwelche (äußeren, wirklichen) Dinge verantwortlich machen. Das Gehirn kann nicht zugleich wichtig und unbeteiligt sein.

Wenn mir gegenüber also ein Audiophiler den Vorrang der (seiner!) Wahrnehmung postuliert, dann führt er sich im nächsten Moment ad absurdum, in dem er sich wieder irgendwelcher "Teile" widmet.

Für den, der die oben erwähnte Trennung ernst nimmt, zeigt sich wie stark dominant der Beitrag des Gehirns in dieser Sache ist. Es ist mittlerweile klar, daß die Wahrnehmung eine "Konstruktion" einer Wirklichkeits-Simulation darstellt, und damit eine aktive Leistung des Gehirns ist. Das geht weit hinaus über eine bloße "Abbildung", so unvollständig sie auch sein mag. Manche haben mir deswegen weis zu machen versucht, es gebe gar keine Wirklichkeit, es gebe nur die Wahrnehmung davon. Das ist in meinen Augen bloß wieder der Versuch, die Wahrnehmung für das eigentlich Wichtige zu erklären.

Natürlich gibt es die Wirklichkeit. Das ist (fast) eine Tautologie. Auch wenn es prinzipiell unmöglich sein sollte, sie vollständig zu erkennen. Also ist es sinnvoll, möglichst viel über sie herauszufinden, und das bedeutet eben, den Beitrag des Gehirns an der Wahrnehmung auszuklammern.
Sterzer: "Die grundsätzliche Idee, wie Wahrnehmung funktioniert, ist eigentlich die, dass Wahrnehmung letztlich ein Produkt aus unseren Erwartungen, unseren Vorannahmen und den sensorischen Eingangssignalen ist. Unsere Erwartungen prägen in ganz bedeutsamer Weise unsere Wahrnehmung."

Das kann man noch steigern: In vielen Fällen kommt es auch zu Wahrnehmung, ohne daß es dazu sensorische Eingangssignale bräuchte. Unsere Erwartungen und Vorannahmen allein reichen auch schon, um Wahrnehmungen zu erzeugen. Kurz gesagt: Wir bilden uns so manche Wahrnehmung ein. Besonders wenn die Erwartungen und Vorannahmen entsprechend ausfallen.
Wir erleben nicht die Welt, sondern eine virtuelle Realität, ein Modell. Das Verblüffende: sich selbst kann das Gehirn nicht beobachten. Der eigene Beitrag zur Wahrnehmung ist sozusagen sein blinder Fleck.
Man könnte wohl auch sagen: Wer es schafft, jemandem ein Modell der Wirklichkeit vorzugeben, der formt auch sein Erleben. Und dieses Erleben wirkt völlig real.

Was ich besonders interessant fand, weil es mir neu war (wenn ich auch schon den entsprechenden Verdacht hatte), ist dies:
Mit geschickten Manipulationen konnte Philipp Sterzer belegen, wie vorgefasste Meinungen auch den Sehsinn in die Irre leiten. Seine Probanden erlebte eine eigentlich zweideutige optische Illusion danach als stabiles Bild. Besonders interessant: Wer zu leicht wahnhaften Gedanken neigte, war anfälliger für diesen optischen Placeboeffekt.
"Also Menschen, die eher geneigt sind an zum Beispiel Übernatürliches zu glauben, an Verschwörung zu glauben, Zusammenhänge zu sehen zwischen Dingen die sie beobachten, die sind auch eher bereit, Dinge entsprechend ihren Erwartungen und ihren Überzeugungen wahrzunehmen. Was dann, so ist die Theorie, letztlich wiederum auch das wahnhafte Denken verstärken kann. Wenn ich die Welt so sehe, wie ich denke, dann denke ich auch wiederum so, wie ich sehe."
Es ist nicht schwer, das auf die Audiophilen zu übertragen, und auf das Hören. Wenn bei einem Hörvergleich kein Unterschied vorhanden ist, dann ist das eine "zweideutige akustische Illusion". Eine vorgefasste Meinung kann daraus leicht einen "stabilen Klang" ergeben. Wissen wir, daher braucht man Blindtests. Daß die Neigung allerdings mit der Anfälligkeit für Übernatürliches korelliert ist, habe ich bisher nur vermutet. Jetzt scheint das wissenschaftlich erwiesen zu sein.

Im AH-Forum scheinen solche Leute gehäuft aufzutreten.

Donnerstag, 15. Mai 2014

Netzwerkisolatoren

Erinnert Ihr Euch noch an meinen Artikel aus dem Jahr 2011 über Netzwerkkabel? Mir scheint da ist inzwischen eine neue Voodoo-Industrie draus erwachsen. Es werden inzwischen Netzwerk-Isolatoren als audiophiles Zubehör verkauft, die genau das machen was man auch mit einem ungeschirmten Netzwerkkabel haben könnte.

Beispiel GISO, eine "Entwicklung" von Acousence-Chef-Bullshitter Ralf Koschnicke. Ich habe keine Innenaufnahmen gefunden, aber jede Wette daß da nichts drin ist außer ein handelsüblicher Ethernet-Übertrager für zwei Euro, wie man ihn in allen Ethernet-Geräten sowieso findet, weil das nämlich Pflicht ist? Nur daß das in der audiophilen Form eines extra Kästchens natürlich auch einen audiophilen Preis kosten muß - hier um die 250 Euro.

Aber selbst der Übertrager wäre überflüssig, denn er trennt nur zum dritten mal galvanisch, was in  beiden angeschlossenen Geräten ohnehin schon jeweils einmal getrennt wurde. Wie in meinem oben erwähnten alten Artikel schon geschrieben, ist der springende Punkt die Auftrennung der Masseverbindung, also derjenigen Verbindung, die durch die Schirmung geht, und nicht durch die Signalleiter. Diese Masseverbindung ist bei geschirmten Patchkabeln gegeben, und bei ungeschirmten eben nicht. Es würde also für die angestrebte Wirkung reichen, wenn man ein ungeschirmtes Netzwerkkabel zwischen Switch und Endgerät nimmt, also genau das was ich damals schon empfohlen habe.

Aber es ist ja offensichtlich, daß eine derart einfache Lösung nicht audiophil sein kann, denn audiophil erfordert bekanntlich, daß man viel Geld in sinnloses Zubehör investiert, sich dann online darüber was zusammenschwurbelt, und schließlich den audiophilen Orgasmus über verständnisbefreite technische Diskussionen mit dem "Erfinder" herbeiführt: "Danke, Ralf, das ist wieder so ein kleines nettes Mosaiksteinchen, das in unserem Hobby Spaß macht."

Übrigens: Daß es für die Medizintechnik (und manche Anwendungen in der Industrie) Netzwerkisolatoren zu kaufen gibt, ist weder ein Gegenargument gegen meine Ansichten, noch Voodoo in der Medizin. In der Medizin gelten schlicht schärfere Vorschriften für die galvanische Trennung, insbesondere höhere Prüfspannungen, die nicht von den normalen Ethernet-Übertragern erfüllt werden. In der HiFi-Technik sollten aber die 500V, die jeder normale Ethernet-Übertrager schafft, mehr als genug sein.

Audionet hat sich desselben "Problems" gewidmet, und bietet ("optional", wie man hier lesen kann) eine galvanisch getrennte Version ihres Ethernet-Kabels an. Man kann vermuten, daß man da unter dem "runden Zylinder" einfach die Schirmung aufgetrennt hat. Ich weiß nicht welchen Preis sie dafür aufrufen.

Falls nun jemand einwendet, die ungeschirmten Kabel würden zu viel Störung abstrahlen:
  1. Die Störungen sind bloß in unmittelbarer Nähe des Kabels deutlich größer. Schon bei 10 cm Distanz zum Kabel mittelt sich das aber wegen der symmetrischen Datenübertragung, und dem bei Ethernet benutzten Daten-Scrambling, so weit aus daß kaum mehr was zu messen ist. Schirmung ist bloß wichtig, wenn in einem Kabelkanal ganze Bündel von Kabeln beieinander liegen, über größere Entfernungen hinweg. Die einzelne freiliegende Patchleitung vom Switch zum Endgerät ist harmlos und kann ohne Probleme ungeschirmt sein.
  2. Wer aus Gewissensgründen unbedingt Schirmung haben will, der kann die Auftrennung der Schirmverbindung auch über eine handelsübliche, billige, ungeschirmte Doppelkupplung machen, oder noch billiger indem man die Blechschirmung an einem Stecker des Patchkabels mit Tesafilm abklebt.
Vielleicht sollte ich ja eine "Pelmazo-Kasse" einrichten, in die jeder "Nicht-Audiophile", der sich durch meine Hinweise eine unsinnige Investition erspart hat, nur 10% der Summe einzahlt, die er sonst verplempert hätte...

Mittwoch, 7. Mai 2014

Trollkrieg

Wer seit vielen Wochen die Kommentarbereiche der Online-Zeitungen liest, und zwar was da zum Thema Ukraine so kommentiert wird, der kann sich kaum des Eindruck erwehren, daß da eine ganze Armee von Trollen prorussischen Dünnpfiff posten, anscheinend mit dem Ziel, jeden Ansatz vernünftiger Diskussion unter einer Flut von stereotyper Propaganda zu begraben. Man fragt sich, ob es wirklich so viele Leute gibt, die das freiwillig und aus bloßem Mitteilungsbedürfnis tun, oder ob da ein dunkler Plan dahinter steckt.

Jetzt hat sich der britische Guardian in einem Artikel dazu geäußert, und ist sich einigermaßen sicher, daß das eine bezahlte und vom Kreml orchestrierte Kampagne ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß so etwas schwer zu beweisen ist, aber die Indizien wiegen schwer, und die Sache ist offenbar auch nicht erst im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise aufgekommen. Es ist auch nicht überraschend, daß so etwas passiert. Regierungen haben ja schon lange versucht, Einfluß und Kontrolle über die Medien auszuüben, und je totalitärer die Machthaber sind, desto enger werden die Spielräume für die Medien und für die freie Meinungsäußerung. Bloß hat das bis vor relativ wenigen Jahren hauptsächlich die Zeitungen und die Radio- und Fernsehsender betroffen. Das passiert auch nach wie vor, wie man z.B. eben in der Ukraine und in Russland sehen kann. Wer in der Ostukraine gerade am Hebel sitzt, sorgt auch sofort dafür, daß die lokalen Medien nur noch in seinem Sinn senden. Die Propaganda in den Medien ist zentraler Bestandteil des Konflikts, ohne massive Zensur und planmäßige Desinformation ist der ganze Konflikt nicht zu verstehen.

Aber das Internet hat seit ein paar Jahren bewiesen, welche zentrale Rolle es inzwischen bei der Willensbildung und bei der Organisation von Opposition spielt, und die meisten Machthaber dieser Welt haben es begriffen. Was wir eben sehen, ist der Versuch, diesen Teil der Macht zurückzuholen, und zurückzuschlagen, und die Möglichkeiten des Internets für die eigenen Machtinteressen zu nutzen. Weil das Internet global organisiert ist, globalisiert sich damit auch der Informationskrieg, der Machtkämpfe unweigerlich begleitet. Welche Zeitungen in Odessa gelesen werden, und welche Fernsehsender dort gesehen werden, dringt kaum bis zu uns nach Westeuropa durch. Das sind regionale Phänomene. Aber im Internet ist die Welt kleiner, und es ist relativ einfach für eine bezahlte Gruppe von Trollen in St. Petersburg, die Kommentare unter einem Guardian-Artikel zu dominieren.

Ich komme allerdings auch nicht um die Erkenntnis herum, daß diese organisierten Troll-Aktionen ziemlich dümmlich daher kommen. Ich kann nicht wirklich erkennen, daß sie die öffentliche Meinung signifikant beeinflussen. Was mich aber schon nachdenklich macht ist, daß wir hier wohl noch am Anfang einer Entwicklung stehen, in deren Verlauf sich diese "Trolle" stark professionalisieren werden, und damit zugleich wirkungsvoller und weniger auffällig werden.

Wenn man mal gedanklich einen Schritt zurück geht, und den Blick nicht auf die Ukraine-Krise allein richtet, sondern auf den herrschaftlichen Umgang mit dem Internet allgemein in der Welt, dann kann man durchaus Unterschiede feststellen. Die plumpen Eingriffe in die Freiheit des Internets sind immer noch die in der Öffentlichkeit besser bekannten. Wenn z.B. in der Türkei der Premier Erdogan ein soziales Netzwerk sperren läßt, weil dort seine Gegner kommunizieren, und Stunden später haben die meisten Netzbenutzer herausgefunden, wie man die Sperre umgeht, dann kann man darüber mit Recht schmunzeln ob seiner Unbeholfenheit. Von solchen Leuten droht dem Internet nicht wirklich eine Gefahr. Im Gegenteil, Erdogan erreicht damit das Gegenteil dessen was er will.

Andere Länder sind da weiter und auch konsequenter. Es wäre auch naïv, zu glauben es ginge hier lediglich um demokratiefeindliche Regierungen "im Osten". Im Februar ging angesichts der dramatischen Entwicklung in der Ukraine eine andere Nachricht fast unter, die zum Themenkomplex "NSA-Affäre" gehört. Es lohnt sich aber, das im Zusammenhang bzw. im Vergleich zu sehen.

Glen Greenwald berichtet da über ein Dokument aus dem Snowden-Fundus, das vorstellt, mit welchen Mitteln der britische Geheimdienst GCHQ arbeitet, um Gegner zu bekämpfen. Es wird deutlich, daß es dabei nicht so sehr um Terroristen geht, wie man in der Öffentlichkeit gern glauben macht, sondern um Gruppierungen, die sich online finden und koordinieren, und um die Meinungsbildung und Diskussionskultur im Internet generell. Man muß da eher an Protestbewegungen denken, wie z.B. Anonymous, die Occupy-Bewegung, Greenpeace, etc., also durchaus auch völlig legale und demokratisch motivierte Gruppierungen.

Es geht da ganz konkret darum, daß der GCHQ Hunderte von Leuten in Techniken trainiert, mit deren Hilfe sie Online-Diskussionen manipulieren, steuern und torpedieren können, um damit auf die Meinungsbildung Einfluß auszuüben. Das Täuschen, Verwirren, Verbergen und Verzerren gehört da als Mittel ausdrücklich dazu. Methoden, die früher einmal zum Repertoire der Geheimdienste gegen das gegnerische Militär und gegnerische Politiker und Dienste gehörten, werden nun gegen das allgemeine Volk eingesetzt.

Die Tatsache, daß hier ein professionelles Training erfolgt, läßt erwarten, daß sich diese Leute wesentlich intelligenter und effektiver, und zugleich unauffälliger, verhalten werden, als es die Troll-Horde aus Russland im Moment tut, von der man den Eindruck hat, daß da kaum Training betrieben wurde. Das wird nicht so bleiben. Die Russen werden schnell dazu lernen.

Wenn allein schon die Briten inzwischen über 1000 Leute dieser Sorte beschäftigen dürften, dann kann man sich ausrechnen, daß andere Geheimdienste ähnliche Maßnahmen am Laufen haben, so daß man leicht auf Zigtausende oder vielleicht sogar über Hunderttausend professionelle Polit-Trolle im Internet kommen kann, deren Aufgabe es ist, Diskussionen im Internet zu beeinflussen, und dafür zu sorgen daß man sich dort nicht mehr halbwegs neutral eine Meinung bilden kann. Das Training dieser Leute basiert offenbar auf der Prämisse, daß alles erlaubt ist, was dem angestrebten Ziel dient, Rufmord und das Ruinieren von Firmen ausdrücklich eingeschlossen. Das wird noch dadurch erleichtert, daß man als Geheimdienstmitarbeiter keinerlei Strafverfolgung befürchten muß, ganz egal was man tut. Das GCHQ-Dokument, auf das sich Greenwald bezieht, spricht diesbezüglich eine klare Sprache, und zeigt daß man bereit ist, alle technischen und psychologischen Erkenntnisse, deren man habhaft werden kann, für die eigenen Zwecke einzusetzen, ohne daß anscheinend auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht würde, ob das "verhältnismäßig" ist, oder ethisch vertretbar.

Die Ukraine-Krise zeigt, wie manipulierbar Leute sind, wenn sie einem Informationsmonopol ausgesetzt sind. Die westukrainischen und generell "westlichen" Medien mögen auch nicht über aller Kritik stehen, aber was man über die Desinformation in den pro-russischen Medien in der Ost-Ukraine, und in den russischen Medien in Russland, so erfährt, ist derart krass, daß man sich hierzulande schwer tut, zu verstehen, wie jemand so etwas ernst nehmen kann. Und doch scheinen sehr viele Leute daran zu glauben. Wenn ein gut geschmierter Propagandaapparat über Wochen und Monate hinweg behauptet, die ukrainische Interims-Regierung seien Nazis und Faschisten, dann wird das für viele Leute offensichtlich zur Wahrheit.

Wir müssen wohl oder übel lernen, aus der Propaganda-Kakophonie aller Seiten in solchen Konflikten das herauszudestillieren, was der Wahrheit wenigstens nahe kommt. Wenn uns das nicht gelingt, dann funktioniert man uns zu Helfershelfern in dieser Propagandaschlacht um.

Regelmäßige Leser dieses Blogs werden sich an die Kakophonie erinnern, die vor einigen Jahren hier in den Kommentaren ablief, wo ebenfalls mit allen Mitteln eine vernünftige Diskussion torpediert werden sollte. Das war lediglich persönlichen Befindlichkeiten geschuldet, ich gehe nicht davon aus daß da Geheimdienste im Spiel waren. Zudem waren wohl die meisten Diskussionsteilnehmer psychologische Laien. Höchst nervig und stressig war's trotzdem. Was uns da im politischen Bereich droht ist aber noch wesentlich übler. Da werden wir's zunehmend mit Profis zu tun kriegen. Nicht nur wenn's um Krieg geht, sondern immer dann wenn staatliche Interessen betroffen sind. Auch bei uns im Westen, wie das Beispiel GCHQ zeigt. Was zugleich heißt, daß uns der Staat nicht schützen wird. Wir werden unsere Freiheit schon selbst verteidigen müssen.

Donnerstag, 27. März 2014

Rechtschaffen gelogen

"Pono" ist angeblich das hawaiianische Wort für "rechtschaffen". Wenn's nach Neil Young und ein paar Mitstreitern geht, dann kann man diese Art der Rechtschaffenheit bald kaufen. Das Produkt mit diesem Namen ist ein etwas zu groß und teuer geratener iPod für die Audiophilen und MP3-Hasser dieser Welt, zusammen mit einem Online-Dienst zum Verkauf der dazu passenden hochauflösenden Musikdateien.

Nun bin ich ein ziemlicher Fan von Neil Young, genauer gesagt von seiner Musik, und von daher weiß ich auch daß er mit der Rechtschaffenheit ein bißchen einen Spleen hat, der schon in der Vergangenheit manchmal in die falsche Richtung losgegangen ist. Aber ok, das ist die künsterische Freiheit. Wenn gute Musik dabei rauskommt, darf sich der Künster auch mal ins Gemüse setzen. Young's schrägste Musik kam raus als er auf dem religiösen Trip war, und ich war froh als er damit fertig war.

Aber das was er jetzt so treibt fliegt mir direkt ins Auge, und ich komme nicht darum herum, ihm in aller Freundschaft die Messe zu lesen. Was er da mit deinem Pono-Projekt treibt hat nur insofern etwas mit Rechtschaffenheit zu tun, als es das Gegenteil ist. Es ist eine Marketinglüge, die mit schubkarrenweise Heuchelei und Geschichtsklitterung verkauft wird.

Kürzlich hat Neil auf der SWSX einen etwa halbstündigen Vortrag zur Einführung des Pono gehalten, und dabei tief in die Klischeekiste gegriffen, allen voran das audiophile Klischee des Künstlers, der die bestmögliche (analoge) Qualität seiner Songs anstrebt, und die Industrie, die daraus (digitalen) Klangschrott macht. Die Guten und die Bösen, in schöner rechtschaffen-amerikanischer Tradition. Parallel dazu verbreitet die Marketingmaschine Unsinn über die technische Seite. Aus einem sechtel der Daten eines Audioformates werden nolens volens ein sechtel der "musikalischen Information". Musikalische Information wird einfach mit den Bits gleichgesetzt.

Ich weiß gar nicht wo ich da mit dem Aufräumen anfangen soll.

Vielleicht mit der Geschichte. Als es mit der digitalen Aufnahmetechnich so um 1980 richtig los ging, waren sehr viele Musikschaffende, also gerade auch Musiker und Dirigenten, aber auch Produzenten und Toningenieure, von den klanglichen Qualitäten der neuen Technik begeistert. Und das obwohl die damals verfügbaren A/D und D/A-Wandler aus heutiger Sicht ziemlich bescheiden waren. Man konnte froh sein wenn die 14 ehrliche Bits boten. Trotzdem war das gegenüber dem was an analogen Speichertechniken zur Verfügung stand überlegen. Karajan war einer der aktivsten Protagonisten - war der taub? Was war mit Ry Cooder, der die erste digital aufgenommene Pop-Platte rausbrachte? Stevie Wonder? Donald Fagen? Peter Gabriel? Alle taub? Das war noch bevor die CD offiziell gestartet war, wohlgemerkt!

Aber jetzt, im Nachhinein, will Young schon immer einen mit der Digitaltechnik einher gehenden Schwund an Qualität bemerkt haben, schon mit den ersten großen digitalen Mehrspurmaschinen, die er benutzte. Mir scheint, da paßt sich seine Erinnerung an seine momentane Ideologie an. Mit der Realität hat das nicht allzu viel zu tun.

Nun bin ich sicher der Letzte der leugnen würde, daß die Tonqualität seit längerem auf dem Weg bergab gewesen ist. Es ist der sattsam bekannte "Loudness War", über den schon viel geschrieben wurde (auch von mir), und von dem man den Eindruck haben kann daß die Talsohle inzwischen durchschritten ist. Bloß hat der Loudness-War nicht mit der Digitaltechnik zu tun, es sei denn daß man der Technik zur Last legt daß sie immer mehr Flexibilität bietet, die eben auch klangverschlechternd benutzt werden kann, wenn man das so will, oder wenn man keine Ahnung hat, oder keine Hemmungen. Der Loudness-War kam aber nicht mit der Digitaltechnik in Gang, sondern erst etliche Jahre danach, als die CD das Mainstream-Medium geworden war, und damit nicht an den audiophilen Marktgerichtet war, sondern an den Massenmarkt. Das war gegen Ende der 1980er der Fall, und nochmal ein Jahrzehnt danach war es dann so weit daß tragbare MP3-Player in den Massenmarkt drängten.

Der klangliche Abstieg seit dieser Zeit ist kein Zeichen für ein Problem der Digitaltechnik, wie Young und seine Mitstreiter suggerieren, sondern eine Folge des Loudness-Wars, der einerseits durch die Digitaltechnik mit ihren erweiterten Möglichkeiten erleichtert wurde. Andererseits ist gerade digitale Tontechnik gegenüber den Übersteuerungen, die dadurch resultieren, in klanglicher Hinsicht besonders empfindlich.

Wer den Luxus hat, frühe CD-Pressungen zu haben, die aus den 1980ern stammen (kein Remaster!), der weiß wovon ich rede. Wenn die Digitaltechnik ein prinzipielles Problem hätte, müßte man es dort mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr bemerken, als mit neuen Produktionen. Es ist aber oft genau umgekehrt: Die damaligen Produktionen klingen besser, der schlechteren Wandlertechnik zum Trotz! Folglich könnte man mit späterer Technik ein eher noch besseres Ergebnis erzeugen, unter Beibehaltung des CD-Formats, wenn man nur wollte oder will. Und das haben die ganze Zeit hindurch auch immer wieder gute Produktionen gezeigt.

Das könnte auch Neil Young wissen wenn er ehrlich wäre. Er könnte einen seiner hochauflösenden Titel mit 192k/24-bit auf 44,1k/16-bit konvertieren und feststellen, daß er keinen Unterschied merkt. Ich gehe davon aus daß er es gar nicht erst probiert hat, wenigstens nicht verblindet.

Und es wäre auch ehrlicher von ihm, wenn er zugeben würde daß es nicht zuletzt oftmals die Musiker selbst sind, die es immer lauter wollten. Daß die klangzerstörerische Konspiration der "Industrie" gegen die Interessen der Musiker wohl eher ein Mythos ist, dessen Verbreitung nicht etwa rechtschaffen ist, sondern heuchlerisch.

Das MP3-Bashing wirkt auf mich in diesem Zusammenhang mehr und mehr komisch bis absurd. Wir haben die Zeiten hinter uns gelassen, als Speicherkapazität und Netzbandbreite so teuer waren, daß für MP3 gute Gründe gesprochen hätten. Alle aktuellen Player, Smartphones und Tablets spielen problemlos auch unkomprimierte Dateien ab, und auch das Streaming über's Netz kann mit unkomprimierten Dateien umgehen. Worin liegt der Sinn, auf einem toten Pferd rumzuprügeln, noch dazu mit faulen Argumenten? MP3 und Verwandte bleiben uns hauptsächlich im Bereich Radio und Fernsehen erhalten, und dort mit gutem Grund: Funkbandbreite ist eine limitierte Ressource und es bleibt teuer, wenn man ein terrestrisches Sendernetz betreiben muß.

Es ist überdies recht bizarr, wenn man alten Männern dabei zusieht, wenn sie sich über die Unterschiede in der Klangqualität verschiedener Audioformate auslassen, die sich in Frequenzbereichen abspielen die sie wahrscheinlich schon seit 30 Jahren nicht mehr gehört haben. Gerade Neil Young, der ziemlich auf die 70 zugeht, kann mir nicht erzählen, speziell bei seiner Vergangenheit nicht, daß er auch nur annähernd das Frequenzspektrum der CD ausschöpft. Das käme einem anatomischen Wunder gleich. Wahrscheinlicher ist, daß Musiker dieses Alters und Genres erhebliche Hörschäden haben. Und ausgerechnet die sind jetzt die Kronzeugen für hochauflösende Formate? Soll ich lachen oder verzweifeln?

Aber vielleicht ist gerade das ja eine Erklärung für die MP3-Abneigung. Es gibt ja schon seit Langem Hinweise darauf, daß Hörschäden dazu führen können, daß die psychoakustischen Modelle, auf denen MP3 beruht, nicht mehr hinhauen. Das könnte dann zum scheinbaren Paradox führen, daß die systemimmanenten Verzerrungen von MP3, die bei normalen Hörern verdeckt würden und nicht wahrgenommen werden, bei Hörgeschädigten eben nicht mehr verdeckt werden, und folglich auffallen. Man müßte dann nicht halb taub sein, um MP3 gut zu finden, wie man aus audiophilen Kreisen arroganterweise immer wieder hört, sondern man müßte halb taub sein um MP3 schlecht zu finden.

Und dann das Pono-Gerät selbst: Wer will denn bitte so ein klobiges Ding haben, das noch dazu fast nichts kann? Es kann nicht mal Wireless! Man vergleiche das Ding mal mit Apple's Produktlinie, um sich das (Miß-)Verhältnis in Design, Größe, Akkulaufzeit, Leistungsfähigkeit etc. klar zu machen! Was könnte Apple für einen Verkaufspreis von $399 anbieten? Und Apple war nie ein Billiganbieter!

Stattdessen läßt man sich das Innere von Ayre ausrüsten, dem Inbegriff sinnloser Opulenz und hemmungsloser Anti-Gegenkopplungs-Propaganda!

Tut mir leid, aber ich finde an dem Ganzen kein gutes Haar. Viel Geld und viel Getöse um Nichts, jedenfalls nichts Neues, und mir ist noch nicht einmal klar wie das Kopierschutzmodell aussehen soll, denn ich bezweifle daß darauf ganz verzichtet werden soll. Bisher war noch jeder Versuch, die CD zu ersetzen, mit dem Versuch verbunden, das freie Kopieren einzuschränken, auch wenn es nicht für unmoralische Zwecke sein sollte. Wenn das Ganze dann noch mit Lügen und Fehlinformation verkauft wird, dann ist meine rote Linie überschritten.

Sorry Neil, mach lieber Musik. Das habe ich an Dir bisher geschätzt. Deine Pono-Kampagne ist weder ehrlich noch rechtschaffen, es ist ein Etikettenschwindel.