Sonntag, 18. September 2016

Wahrheit ist von vorgestern

Die Frage "Was ist Wahrheit?" ist der berühmteste Spruch des Pontius Pilatus in der Bibel, womit eine klassische philosophische Frage mindestens einmal in die Nähe des Zynismus gerückt wird, schließlich geht es in der Geschichte um eine Hinrichtung. Heutzutage scheint diese Frage aus der Mode gekommen zu sein, die aktuelle Frage scheint zu lauten: "Wozu überhaupt Wahrheit?"

Nun stand die Wahrheit schon seit dem Altertum nicht allzu hoch im Kurs, wenn es um "Realpolitik" geht. Es ist ja geradezu ein Kennzeichen von Realpolitik, wenn man es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, und eher nach der machtpolitischen Zweckmäßigkeit fragt. Das klingt negativ, geradezu unmoralisch, und Pontius Pilatus wurde demzufolge auch oft als Negativbeispiel eines Bösewichtes dargestellt, aber man kann es natürlich auch ganz anders sehen. So wie z.B. Machiavelli, der in seinem "Fürst" Folgendes schrieb:
"Da es aber meine Absicht ist, etwas Nützliches für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. [...] denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt."

Er empfiehlt daher einem Herrscher, je nach Notwendigkeit moralisch oder unmoralisch zu handeln. Das ist geradezu die Definition von Realpolitik. So gesehen hat Pilatus korrekt gehandelt. Er hatte es mit genug Aufrührern zu tun, und angebliche Messiasse gab es damals in Palästina im Dutzend billiger, da konnte es nicht schaden sich einiger davon zu entledigen, wenn das die Chance bot etwas Ruhe in die aufgeheizte Lage zu bringen. Er könnte sich gedacht haben: Lieber jetzt einen von ihnen hinrichten als ein Jahr später tausend Aufrührer militärisch niederschlagen zu müssen.

Auch Machiavelli lebte in unruhigen und gewalttätigen Zeiten, und seine Ratschläge an die Herrschenden sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Er wollte nicht einem Despoten dabei helfen die Bevölkerung zu tyrannisieren, sondern er wollte daß jemand gewinnt damit wieder friedliche Verhältnisse eintreten können, und nicht immer wieder kriegerische Horden über's Land ziehen und die Bevölkerung übel zurichten. Auch wenn das mit unmoralischen Mitteln einher geht ist's doch recht wenn dabei Frieden dabei heraus kommt. Wie das ausgehen kann wenn ein religiös inspirierter Prophet eine Art Gottesstaat errichtet, in dem quasi per Definition alles höchst moralisch zugeht, weil göttlich, konnte er am Beispiel seines Zeitgenossen Savonarola studieren, der nach wenigen Jahren auf dem Scheiterhaufen starb.

An solchen geschichtlichen Beispielen fällt einem unwillkürlich auf, wie es doch immer wieder aus den gleichen Gründen schief geht. Lernen aus früheren Fehlern scheint auch heute nicht in hohem Kurs zu stehen.

In den Zeiten von Pilatus braute sich unter den Juden ein religiöser Exzess zusammen, der nach Jesus erst so richtig Fahrt aufnahm, obwohl seine Anfänge schon vor Jesus zurück reichten. Die Zeloten insbesondere waren eine zunehmend militante, von Messias-Vorstellungen inspirierte Gruppe, die irgendwann dazu überging, Leute am hellichten Tag auf öffentlichen Plätzen abzustechen. Das mündete schließlich im Jüdischen Krieg, der mit der Zerstörung Jerusalems und des dortigen Tempels im Jahr 70 endete, ein gräßliches Blutbad. Eine Gruppe von Aufständischen verschanzte sich noch zwei Jahre länger auf der Festung Massada, bevor sie angesichts der bevorstehenden römischen Eroberung der Festung kollektiven Selbstmord begingen.

60 Jahre später ging's noch einmal los: Der Bar Kochba Aufstand brach aus. In Jerusalem hatten sich drei konkurrierende jüdische Fraktionen religiöser Eiferer verschanzt, und bekriegten sich noch gegenseitig, als schon die Römer die Belagerung vorbereiteten. Dabei sollen die Rebellen sogar gezielt die eigenen Nahrungsvorräte vernichtet haben, damit sie nicht einer konkurrierenden Fraktion in die Hände fallen. Das Ende war ein erneutes Blutbad, und im Ergebnis waren die Juden 500 Jahre lang aus Jerusalem verbannt, außer an einem Tag im Jahr an dem sie den Verlust ihres Tempels beklagen durften. Erst mit der Eroberung Jerusalems durch die muslimischen Araber im Jahr 637 änderte sich das wieder, und die Juden durften zurück nach Jerusalem.

Das Beispiel Savonarolas zeigt, daß das gleiche Prinzip auch bei den Christen wirkte, wobei man in der Geschichte des Christentums noch viele andere, schlimmere Beispiele finden kann. Man braucht eigentlich nur die Kreuzzüge zu erwähnen, die ja noch heute in den Köpfen sowohl einiger Moslems als auch einiger Christen herumspuken. Mit denen wollten die Christen das rückgängig machen, was im Jahr 637 passiert war. Genauso blutig wie erfolglos.

Wenn es heute die Moslems sind, die mit solchen Vorstellungen vom Gottesstaat letztlich doch wieder nur ein Blutbad nach dem anderen anrichten, so sieht man daran vor dem ganzen geschichtlichen Hintergrund eigentlich nur, daß sich die verschiedenen Religionen in dieser Hinsicht nicht viel schenken. Einmal bricht der Wahnsinn bei den einen aus, einmal bei den anderen. Immer wieder sind es endzeitliche Phantasien, sei es nun das Kommen eines Messias, oder ein herbeigesehnter "jüngster Tag", oder was auch immer: Es hat sich noch jedesmal herausgestellt, wenn man in den rauchenden Trümmern der zerstörten Städte steht und der Rausch ein Ende gefunden hat, daß es doch keine Erlösung gegeben hat, und sich die Welt einfach weiter dreht, allen Leichen und aller Zerstörung ungeachtet.

Was das nun mit Wahrheit zu tun hat? Nun, es sind Beispiele für deren Abwesenheit. Wo das Wunschdenken Amok läuft ist die Wahrheit unwillkommen. Wenn man sich vom Leben nichts mehr erwartet und die Endzeit herbeisehnt erst recht.

Und es scheint sehr viele Leute zu geben, die sich nichts mehr vom Leben erhoffen. Anders ist ihr Verhalten nicht zu erklären. Es geht mir dabei nicht bloß um die Leute, die sich freiwillig um einer fixen Idee willen in die Luft sprengen oder sich anderswie unter Mitnahme möglichst vieler "Ungläubigen" um die Ecke bringen. Es geht mir auch um diejenigen, die unverantwortlichen Populisten zujubeln, von denen sie ganz genau wissen, daß sie lügen, sobald sie den Mund aufmachen. Das tut man nur dann, wenn man denkt, es könne ohnehin nicht mehr schlechter werden als es schon ist, und deswegen eine Lust verspürt, hemmungslos auf die Kacke zu hauen, bevor dann unvermeidlicherweise alles in die Binsen geht.

Oder kann mir jemand einen anderen Grund nennen, warum man Populisten wie Donald Trump oder den Clowns von der englischen UKIP auch dann noch zujubelt, wenn ihre dreisten Lügen auch für den letzten Idioten offensichtlich geworden sind? Das kann doch nur eins bedeuten: Die Anhänger dieser Leute wissen daß das alles Lügen sind - und es ist ihnen egal. Es geht nicht darum was stimmt und was nicht. Es geht nur darum wer sich darüber aufregt. So lange sich das "Establishment" oder die "versifften Linken" darüber aufregen, lohnt sich auch noch die schwachsinnigste Lüge. Daß die halbe Welt an Trump's Erfolg verzweifelt, daß die EU durch den Brexit in Not gerät, daß die "Gutmenschen" geschockt sind, wieviel schierer Egoismus und Rassismus ihnen ins Gesicht schlägt: Alles geil, genau diesen Schockeffekt will man haben. Auf die Kacke hauen, je mehr es spritzt desto besser.

Irgendeine Verantwortung für das Danach hat man ja nicht, denn man rechnet nicht damit daß es ein Danach geben wird, wo man dann wieder mit den Leuten zu tun hat, die man zuvor mit voller Absicht zur Weißglut gebracht hat. Trump z.B. gibt sich alle Mühe, möglichst vielen Leuten auf den Schlips zu treten mit denen er als Präsident wieder irgendwie auskommen müßte. Man kann sich nicht recht vorstellen, daß er überhaupt ernsthaft Präsident werden will, denn auf diese Art macht er sich seinen womöglich zukünftigen Job praktisch unmöglich.

Kein Wunder, daß das auch die Theorie von Michael Moore ist: Trump wollte nie Präsident werden. Er dachte ohnehin nicht, daß er so weit kommen würde. Das Ganze war eher ein Publicity-Stunt, um ihm bessere Chancen auf einen guten Deal mit dem Fernsehen zu verschaffen. Er hat keinen Plan für den Fall daß er gewählt wird. Man hat eher den Eindruck, daß er sich alle Mühe gibt, so viele Leute wie möglich zu beleidigen, damit er nicht gewählt wird, was ihm paradoxerweise gerade zu mehr Popularität verhilft.

Den gleichen Eindruck gewinnt man im Fall des Brexit-Referendums: Die Brexit-Wahlkämpfer haben an ihren Erfolg selber nicht geglaubt. Für diesen Fall hatten sie keinerlei Plan. Deswegen haben sie sich erst einmal verpisst, als sie wider erwarten gewonnen hatten. Es ging gar nicht um's Gewinnen, sondern darum, dem Establishment an den Karren zu fahren, mit so viel Schmackes wie möglich, damit's ordentlich scheppert. Egal welcher Schaden dabei entsteht. Deswegen hat man auch hemmungslos gelogen, denn das provoziert am besten - vor allem wenn jedem klar ist daß es eine Lüge ist. Daß man hinterher irgendwie Verantwortung übernehmen soll, und den Weg aus dem Schlamassel weisen soll, welches man angerichtet hat, kam in den Überlegungen offenbar nicht vor.

Es gibt keinen Grund, zu glauben es würde anderswo, z.B. hier in Deutschland mit der AfD, oder bei den Franzosen mit der Front National, anders laufen. Die funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip. Sie sind auf ihren eigenen Erfolg nicht vorbereitet, denn sie haben keinen positiven, konstruktiven Plan für "Danach". Sie würden sich im Fall des Falles darüber intern heillos zerstreiten, wenn das nicht sowieso schon der Fall sein sollte, außer es setzt sich eine einzige Person durch, die dem Ganzen ihren Weg aufzwingen kann. Ihr ganzer Erfolg beruht auf zwei Faktoren:
  • Einer Bevölkerungsschicht, die keine positiven Erwartungen an die Zukunft hat, und deswegen keine Hemmungen hat, destruktiv zu sein. Die nicht glaubt, in der gegebenen Lage irgend etwas wirklich verschlechtern zu können, und darum auch keine Verantwortung verspürt. Die im Gegenteil glaubt, je heftiger es kracht, desto eher kann daraus etwas Positives, Neues entstehen.
  • Ein verbliebenes Verantwortungsbewußtsein bei einem anderen Teil der Bevölkerung, der als das "Establishment" wahrgenommen wird. Dieses kann man herausfordern, verspotten, und letztlich zur Geisel nehmen. Je mehr sich die dagegen sträuben, ihre Verantwortung und ihre Menschlichkeit preiszugeben, desto mehr hat man sie am Nasenring und kann sie quälen. Es ist der gleiche Trick wie bei einem pubertären Teenager, der durch seine demonstrativ zelebrierte Verantwortungslosigkeit seine Eltern zur Weißglut treibt, wohl wissend daß sie ihn im Ernstfall nicht hängen lassen werden.
Man müßte sie eigentlich die Folgen ihrer eigenen Verantwortungslosigkeit spüren lassen, einesteils um ihnen die Folgen zu verdeutlichen, andererseits um ihnen zur Erkenntnis zu verhelfen, daß es wider ihrem Erwarten nach Ende des Gemetzels ein Danach gibt, in dem sie sich wieder mit denen arrangieren müssen, denen sie zuvor den letzten Nerv geraubt haben. Nur, wohin verzieht man sich in der Zwischenzeit, wenn man nicht von den Trümmern getroffen werden will?

Eine Kolonie auf einem anderen Planeten wird so schnell nicht fertig sein...

Oder sollen wir uns doch lieber an Machiavelli halten, und die hehren Prinzipien fahren lassen und uns möglichst klug und effektiv ins allgemeine Hauen und Stechen stürzen, mit dem Ziel am Ende die Oberhand zu behalten, wenn genug Blut geflossen ist?